Survivorship Bias

von Septentrionalis

Allseits beliebt ist die „Analyse“ der Biografien von Erfolgsmenschen. Dahinter steht die Vorstellung, man könne anhand solcher Beispiele etwas für sein eigenes Fortkommen lernen. Zig Erfolgsstrategien sind aus solchen prominenten Lebensläufen herausdestilliert worden. Und der Büchermarkt ist zu diesem Thema anscheinend nie saturiert.
Dabei schlägt bei dieser Betrachtungsweise häufig ein Phänomen zu, das man mit „Survivorship Bias“ – „Überlebensirrtum“ oder „Verzerrung zugunsten der Überlebenden“ – bezeichnen kann. Der Fehlschluss gründet sich dabei darin, dass die einem zu Bewusstsein kommenden Beispiele stets nur eine Auswahl darstellen und alle übrigen Fälle unter den Tisch fallen.
Der Begriff „Survivorship Bias“ geht auf englische Ingenieure im Zweiten Weltkrieg zurück. Sie wollten die Panzerung von Bombern verbessern, indem sie nach Untersuchung der zurückgekehrten Maschinen die Stellen mit den meisten Einschusslöchern stärker panzerten. Was jedoch die Überlebensrate nicht erhöhte. Der Mathematiker Abraham Wald erkannte schließlich, dass man die Treffer an den abgeschossenen Maschinen nicht berücksichtigt hatte und schlug vor, die Bomber vielmehr an jenen Stellen ohne Einschusslöcher zu verstärken.
Das Phänomen taucht an vielen Stellen auf. So überschätzen Jugendliche oft die Wahrscheinlichkeit, ein berühmter Star, Sportler oder Künstler zu werden, weil sie nur von den erfolgreichen Versuchen in der Zeitung lesen. Über die vielen Misserfolge wird ja nicht berichtet.
Auch im Finanzbereich findet sich der „Überlebensirrtum“. Etwa bei Investmentfonds: Berechnet man die Wertentwicklung einer Fondsklasse über mehrere Jahre und lässt die Verluste der inzwischen wegen Erfolglosigkeit geschlossenen Fonds weg, überschätzt man hinfort die erzielbare Rendite. Der Effekt kann sich – je nach Methode und Datenbasis – auf einen Renditeunterschied von jährlich bis zu eineinhalb Prozentpunkten belaufen, im Investmentgeschäft eine ganze Menge.
Und noch ein dritter Fall. DER SPIEGEL berichtete in einem Beitrag mit dem Titel „So schrecklich war die Ehe im Mittelalter“ darüber, dass alte Gerichtsakten Einblick in den schaurigen Ehealltag vergangener Tage gäben. Schon die Überschrift ließ den Denkfehler erahnen: Wenn man Rückschlüsse auf die Ehe im Mittelalter ziehen will, sind Gerichtsakten ziemlich ungeeignet. Denn sie enthalten lediglich die eklatanten Ausnahmefälle. Man könnte ja auch nicht aus einer heutigen Anklageschrift wegen Mordes in 500 Jahren auf die Jetztzeit als ein besonders mordlustiges Zeitalter schließen.
Auch die Unternehmensgeschichte mit prominenten Namen bietet Belege dafür, wie man im Rückblick nur den überwältigenden Erfolg am Ende, die Risiken aber eher nicht sieht, und wie nahe Erfolg und Absturz nebeneinander liegen können.
So konstruierte der an der preußischen Artillerie- und Ingenieurschule in Berlin ausgebildete Werner Siemens (erst ab 1888 von Siemens) im Jahre 1846 aus Zigarrenkisten, Weißblech, Eisenstückchen und isoliertem Kupferdraht einen Zeigertelegrafen. Bei dem drehten durch einen Draht geleitete Stromstöße auf einer Skala einen Zeiger jeweils bis zu einem bestimmten Buchstaben des Alphabets. Im Gegensatz zu den mühsam zu erlernenden Morsezeichen genial einfach abzulesen. Die detaillierte Ausführung des Apparats überließ Siemens nach ein paar Probebauten dem Mechaniker Johann Georg Halske. Zusammen gründeten beide im Oktober 1847 die „Telegraphen-Bauanstalt von Siemens & Halske“. Sie domizilierte mit einer kleinen Werkstatt in der Berliner Schöneberger Straße 19 im Hinterhaus. Eine Woche nach Firmengründung erhielt der neue Zeigertelegraf ein preußisches Patent.
Wie man heute weiß, war die Gründung mit Halske, der bereits 1867 endgültig aus der Firma ausschied, der Start zu einem noch heute blühenden Weltkonzern mit 80 Milliarden Euro Umsatz.
Startschuss für Großes war dabei der Bau einer Telegrafenleitung von Berlin nach Frankfurt, wo das nach der Revolution von 1848 eingerichtete deutsche Parlament tagte. Das war damals die längste Nachrichtenleitung Mitteleuropas. Aber es dauerte immerhin noch über drei Jahrzehnte, bis die Werkstatt mit zehn Beschäftigten 1870 zu einem Unternehmen mit 1000 Mitarbeitern herangewachsen war.
Die erste schwere Krise nahte bald nach Gründung Anfang der 1850er Jahre. Da häuften sich bei den von Siemens gelegten preußischen Telegrafenleitungen die Störungen, weil die mit Guttapercha isolierten unterirdischen Drähte nicht mehr funktionieren. Diese Ummantelung des Kupferdrahts war der eingetrocknete Milchsaft des im malaiischen Raum heimischen Guttaperchabaumes und steht chemisch dem Kautschuk nahe. Manche Isolierungen waren schon bei der Verlegung beschädigt worden, andere hatten Ratten, Maulwürfe und Mäuse angenagt. Zeitweise fielen die Leitungen den halben Tag aus. Siemens bekam Krach mit der preußischen Telegrafenverwaltung, neue Umsätze blieben von ihr erst mal aus.
Siemens reiste durch halb Europa, um neue Aufträge zu akquirieren. Sein besonderer Antrieb neben der schlechteren Situation der Firma: Er hatte geheiratet und baute ein großes Haus. Reisen des Frischvermählten und seines Bruders Karl nach St. Petersburg wurden für die Firma überlebenswichtig. Dort ging es um eine neue Telegrafenlinie nach Warschau, das damals zum Zarenreich gehörte. Die anderen beiden Brüder, Georg und Wilhelm, korrespondierten: „Daß Werner in Rußland gute Geschäfte macht, ist sehr nötig. Solange Nottebohm am Ruder bleibt (und seine Stellung scheint jetzt ziemlich fest), ist auf Preußen nicht zu rechnen.“
Ganz so schlimm kam es dann doch nicht. Die Berliner Feuerwehr und die Eisenbahnverwaltung erteilten Aufträge … Aber so wäre es wohl mit Siemens & Halske nur langsam weiter vorangegangen. Doch im Frühjahr 1851 gelingt Siemens-Bruder Karl ein wichtiger geschäftlicher Coup in St. Petersburg: Karl war als „blutjunger und bartloser Mensch“ – wie ein Buch über „Erfinder und Erfindungen“ vor über einem Jahrhundert die Situation darstellte – zum zuständigen, obersten Beamten Graf Peter Andrejewitsch Kleinmichel vorgelassen worden. Entgegenkommend war der nicht, ließ sich aber dann doch herbei, den Deutschen zu einem Vorschlag für eine Telegrafenleitung am Petersburger Winterpalais des Zaren aufzufordern.
Die Aufgabe besteht darin, das Gebäude optisch nicht zu verschandeln, denn die russischen Offiziere wollten eine Rinne in das edle Bauwerk hauen, um die Drähte darin zu verlegen. Karl sauste zum Palais und kam rasch mit einer besseren Idee zum Minister zurück: Er hatte eine Ecke entdeckt, in der man die Drähte in einer Regenrinne verbergen konnte. Der große Mann musste schmunzeln und schimpfte auf die ideenlosen Russen. Das Eis war gebrochen.
Allein von 1851 bis zum Ende des Krimkriegs 1856 baute Siemens & Halske rund 10.000 Kilometer Telegrafenstrecke durch die russischen Einöden. Danach war dort mit Neubauten allerdings erst mal Schluss, weil die Russen nach dem verlorenen Krieg ziemlich pleite waren. Aber an der Instandhaltung der bestehenden Strecken verdienten die Deutschen weiterhin prächtig, und die Riesenaufträge wirkten für das Unternehmen wie ein Ritterschlag auf dem Weg zum internationalen Konzern, der Töchter in ganz Europa aufbaute. Siemens in seinen „Lebenserinnerungen“ fast vier Jahrzehnte später: „[…] erlangte unser Petersburger Geschäft große Bedeutung und eine ganz einzig dastehende Stellung im russischen Reich.“
Das rettete vermutlich das heute noch existierende Elektrounternehmen vor der Bedeutungslosigkeit oder gar dem Untergang.
Bliebe man bei der Logik der eingangs bemühten Nachbeter von Erfolgsmenschen-Stories, müsste man anhand des Siemens-Beispiels nun – mindestens im übertragenen Sinne – empfehlen: Lassen Sie ihren Bruder sich mit Regenrinnen beschäftigen!
Aber im Ernst: Man sieht später nur das Ergebnis der Erfolgreichen. Alle unternehmerischen Mitglieder der Siemens-Sippe – allen voran Werner – sind zu Genies heroisiert worden, dabei hätten sie gut und gern auch als Bankrotteure enden können und wären längst vergessen. Dank eines Regenrohrs ist es anders gekommen.
Und noch eins wird an dem Beispiel deutlich: Der in Deutschland übliche Hohn über Bankrotteure ist nicht immer angebracht. Wer die Pleite leichtfertig, aus Dummheit oder gar bösem Willen herbeiführt, von dem sollte man natürlich tunlichst Abstand halten. Wer aber etwas wagt und dabei an widrigen Umständen (zum Beispiel an Mäusen mit Appetit auf schmackhaftes Guttapercha) scheitert, dem sollte man bei einem Folgeversuch durchaus wieder eine Chance geben. Der Fortschritt in der Welt ist nämlich nicht von Bedenkenträgern oder Übervorsichtigen vorangebracht worden, sondern von wagemutigen Zeitgenossen. Und denen sollte man das alte Sprichwort zugutehalten: Nur wer gar nix macht, macht auch nix verkehrt.