20. Jahrgang | Nummer 13 | 19. Juni 2017

Der Wolkenhain auf dem Kienberg

von Heinrich Niemann

In einem soeben veröffentlichten Büchlein des Vereins „Freunde der Gärten der Welt“ über die Entstehungsgeschichten der einzelnen „Gärten der Welt“ in Berlin-Marzahn stellt einer der Autoren, der langjährige Prokurist der Grün Berlin GmbH, Helmut Siering, die Frage: „Wer hätte sich seinerzeit in der Vorbereitungszeit der Berliner Gartenschau 1986/87 vorstellen können, dass (nur) ca. 30 Jahre später das Areal der BEGA Berliner Gartenschau 1987 Kernfläche einer IGA sein würde? Mauern und politische Verhältnisse versperrten die Sicht auf eine derartige Phantasterei.“
Die Geschichte dieser zu DDR-Zeiten entstandenen und nach der Vereinigung nicht nur übernommenen, sondern bewahrten und weiterentwickelten öffentlichen Parkanlage zeigt, dass es folgerichtig und in hohem Maße vernünftig war, gerade dieses Areal im Nordosten Berlins als IGA-Standort zu bestimmen, nachdem das Projekt in Tempelhof gescheitert war.
Am 9. Mai 2017 wurde in der neuen Arena der IGA der 30. Jahrestag der Eröffnung der damaligen Berliner Gartenschau gewürdigt. Ihr 21 Hektar großes Areal nordwestlich des Kienberges macht heute ein Kerngebiet der über 100 Hektar großen IGA aus.
Vom Anfang vor 30 Jahren zeugen noch immer das Blumentheater, der 2008 überarbeitete Karl-Foerster-Stauden-Garten, der damals nach einem Entwurf der Chefplanerin der Gartenschau Roswitha Schultz gestaltet wurde, oder der Sprudel- und Quellgarten (Entwurf 1987 Birgit Engelhardt). Die Agavenskulptur von Rüdiger Buhlau erinnert an die Köpenicker Blütensensation von 1712. Owsians Holzfiguren wie sein vergrößertes Korn sind immer noch vor dem Eingang Eisenacher Straße und im Park zu betrachten, wie auch die Wildschweinrotte von Dieter Graupner und die Berliner und Moskauer Schaukelbären. Die Märchenfiguren des im vergangenen Jahr verstorbenen Bildhauers Gorch Wenske, auch die sie bis vor kurzem beherbergenden Rhododendren (1987 von Kurt Budeke eingebracht) erfreuen bis heute die Besucher.
Eine beachtliche, nicht zu übergehende Liste des Erhaltenen angesichts der nach 1990 unter anderem mit den Themengärten erforderlich gewordenen Neu- und Umgestaltungen des Parks! Das Gelände der Gartenschau, seit 1991 Erholungspark Marzahn genannt, bildet nun seit 2000 gleichsam den geschmückten Reif einer Gartenkrone mit den einzelnen „Gärten der Welt“ als ihren edlen Zacken. An Gottfried Funeck, den 2011 verstorbenen langjährigen Ostberliner Stadtgartendirektor und verantwortlichen Erbauer der Gartenschau, erinnert seit Beginn des Jahres der Weg von Marzahn nach Hellersdorf südlich entlang des Kienbergs. Eine angemessene Würdigung.
Die Chancen einer lange angestrebten Flächenerweiterung und damit neuer gestalterischen Möglichkeiten wurden vor einigen Jahren genutzt. Das zeigt sich heute beeindruckend auf der IGA zum Beispiel mit den Gartenkabinetten oder den weiten Wiesenflächen. Dieser Flächenkauf durch Senat und Bezirk – entgegen dem Zeitgeist – war klug, weil für das Gemeinwohl von Nutzen. Die IGA Berlin 2017 hat einen hohen Anspruch formuliert. Sie hat auf ihre Fahnen geschrieben, Impulse nachhaltiger Stadtentwicklung – so am Rande von Metropolen – auszulösen.
Die neue und einmalige Aussicht vom Wolkenhain auf dem Kienberg vermittelt dafür dem interessierten Betrachter neue und tiefere Einblicke. Vom unmittelbaren Gelände der IGA bleibt manches zwar verdeckt. Der wunderbare Panoramablick auf Berlin und das Brandenburger Umland lässt nun zum Beispiel sowohl Fernsehturm als Funkturm in einer Sichtachse erkennen.
Das eigentlich Faszinierende ist jedoch der nun mögliche neue Blick auf die wie auf einem großen Tableau ausgebreitete Berliner Stadtlandschaft rund um die Gartenschau, also das Gebiet des heutigen Bezirks Marzahn-Hellersdorf in der nordöstlichen Peripherie Berlins. Sie besteht so erst seit gerade zwei Generationen. Etwa 300.000 Menschen leben hier.
Es sind die beiden Großsiedlungen Marzahn und Hellersdorf in ihren gut erkennbaren Stadtstrukturen und mit ihrer eigenwilligen, heute teils sehr bunten Skyline der Moderne vor allem aus Wohnhäusern – von 5 Etagen bis zu den Hochhäusern mit 18 oder 22 Geschossen. Es sind die in Grün gebetteten weiträumigen Einfamilienhausgebiete von Biesdorf, Kaulsdorf oder Mahlsdorf, die seit 1990 eine enorme Verdichtung erfahren haben. Man erblickt Kleingartenkolonien, Sportflächen, die oberirdische U-Bahnlinie, Straßenzüge, die Ränder zwischen Berlin und seinem Umland.
Die Ausmaße des Wuhletals mit seinen drei Erhebungen sind erkennbar, der längste zusammenhängende innerstädtische Grünzug Berlins. Er verbindet beide großen Siedlungen. Erst von der Seilbahn aus sieht man die Moorlandschaft und den Wuhleteich in der Wuhleniederung in ihrer ganzen Größe und Schutzbedürftigkeit Das wissende Sehen lässt auch die Struktur des Grüns mitten in den Wohnvierteln gut erkennen, wie es vom Bezirk und den Wohnungsunternehmen gepflegt und gestaltet wird.
Auf dem Kienberg zu stehen erinnert an historische Fakten. Dieses Berliner Gebiet entsorgte von den 1880er Jahren bis in die 1960er Jahre mit seinen Rieselfeldern Berliner Abwässer. Die nachfolgende, bis zum Jahr 2003 dauernde Klärung der Abwässer über das Klärwerk Falkenberg erfolgte über einen sogenannten Klärwerksableiter, die als Kanal ausgebaute Wuhle. Der 2. Weltkrieg und spätere Baumaßnahmen im Stadtzentrum führten zu den um Trümmer und Bauschutt etliches höher gewordenen Bergen. Manche sagen zu Recht, dass hier der Landschaft von der Stadt Berlin starke Wunden zugefügt wurden, die nur langsam vernarbt sind und geheilt werden müssen und können.
Mit diesen Bedingungen und mit der Riesenaufgabe des DDR-Wohnungsbauprogramms beauftragt, haben die damaligen Stadt-und Landschaftsplaner beim Berliner Magistrat (Heinz Graffunder, Hans Georg Büchner, Helga Behr, Erhard Stefke und andere) schon seit den 1970er Jahren ein zusammenhängendes innerstädtisches Erholungsgebiet für das Wuhletal geplant (und damit auch vor weiterer Bebauung bewahrt). Der Kienberg, die Biesdorfer Höhe und die Ahrensfelder Berge wurden dafür fachgerecht aufgeschüttet, modelliert, mit Mutterboden und Erstbepflanzungen versehen. Alles unter begrenzten materiellen Möglichkeiten und mit der Hilfe von Arbeitseinsätzen vieler Bürger in sogenannten Subbotniks, aber planerisch kompetent und zukunftsfähig. Auf diesen Planungen konnte nach 1990 aufgebaut werden.
Mit der seit längerem anstehenden und mit der IGA endlich möglich gewordenen floristischen Aufwertung des Kienbergs und seiner Ausgestaltung als öffentlich zugänglicher Volkspark vollendet sich ein Jahrzehnte dauernder Prozess, diese Landschaft wieder zu heilen. Auch die durch Naturschutz- und Bürgerinitiativen gemeinsam mit Bezirksamt und Senat in Gang gebrachte Renaturierung der Wuhle bis 2008 und der zuvor entstandene Wuhletalwanderweg zwischen Ahrensfelde und der Spree mit seinem Abstecher auf den Kienberg beziehungsweise die mit Erdaushub des Zentrums „Helle Mitte“ modellierte Erhebung des Jelena-Santic-Friedensparks gehören zu diesen Leistungen, auf die sich die IGA 2017 sehr gut stützen konnte.
Die IGA 2017 findet also in einem Gebiet einmaliger städtebaulicher Umbrüche, rasanter Veränderungen und interessanter praktischer Lösungen statt, die auch nach 1990 immer mit finanziellen Grenzen und anderen Hemmnissen konfrontiert waren. Deshalb sind für IGA-Besucher auch die außerhalb der Gartenschau gerade in Marzahn-Hellersdorf gefundenen Antworten für das Grün in der Stadt interessant. Sie sind aber noch wenig bekannt oder werden selbst in diesen Tagen der Klischees von der tristen Platte wegen gar nicht wahrgenommen. Man sollte dazu auch die „Dezentralen Orte“ der IGA besuchen, wie zum Beispiel den zwei Hektar großen „Hochzeitspark und Garten der Begegnung“ mitten in Marzahn, Nähe S-Bahnhof Raoul- Wallenberg-Straße. Dort pflanzen nun schon seit 2007 zwei Mal jährlich Hochzeitspaare ihren Baum.
Marzahn-Hellersdorf verfügt über den drittgrößten Flächenanteil öffentlichen Grüns der Berliner Bezirke. In jedem Stadtteil der Großsiedlungen gibt es ansprechende und moderne Parkanlagen, sind die mehr als 300 Wohninnenhöfe grün gestaltet, ohne Autoparkplätze, aber mit schattigen Bäumen, Wäscheleinen und Kinderspielplatz. Aus der Eiszeit oder der Rieselfeldzeit herrührende Grabenverbindungen wurden renaturiert und eingebunden. Neben den Kleingartenanlagen gibt es immer mehr sogenannte Mietergärten unmittelbar an Wohngebäuden. Solche Projekte wie Urban Gardening auf zeitweiligen Brachflächen oder die Urbane Weidewirtschaft werden teils schon seit Jahren erprobt, auch Dachbegrünungen. Hier tätige freie Träger und Naturschutzakteure betreiben jetzt mit ihrem Know-How der Umwelterziehung den IGA-Campus mit.
So ist mit den Neuerungen der IGA 2017 ein städtisches Areal weiterentwickelt worden und in das Blickfeld bundesdeutscher und internationaler Öffentlichkeit geraten, das in der jungen Geschichte des Berliner Bezirks Marzahn-Hellersdorf verankert ist. Und weil in hohem Maße bewusst auf Bestehendem aufgebaut wurde, bestehen für die IGA 2017 gute Chancen, positive dauerhafte Spuren zu hinterlassen.

Heinrich Niemann, Bezirksstadtrat für ökologische Stadtentwicklung i.R., langjähriger Vorsitzender des Vereins „Freunde der Gärten der Welt“ und der „Stiftung OST-WEST-BEGEGNUNGSSTÄTTE Schloss Biesdorf e.V.“, lebt in Berlin.