14. Jahrgang | Sonderausgabe | 17. März 2011

Hundert Jahre Neugier

von Helge Jürgs

Was für ein Leben! Was für eine Lebensleistung! Seit Claude Lanzmanns Erinnerungen erschienen sind, faszinieren sie die intellektuelle Welt. Dass der Titel – wie in Frankreich –hierzulande die Bestsellerlisten nicht gestürmt hat, mag gegen allesmögliche sprechen, nicht aber gegen dieses faszinierende Werk.
Claude Lanzmann – wer ihn kennt, kennt den Philosophen, Buchautor und Journalisten vor allem als Dokumentaristen. Sein epochemachender Film „Shoa“ und die Erschütterungen, die die Aussagen der dafür befragten Zeitzeugen des faschistischen Völkermordes an den Juden auslösten als er 1985 ausgestrahlt wurde, sind ein bleibendes Zeugnis von einzigartigem Rang. „Shoa“ hat den französischen Juden und Résistance-Kämpfer zu einer lebenden Legende gemacht. Dass seine Entstehungsgeschichte in Lanzmanns Erinnerungen breiten Raum einnimmt, versteht sich ebenso, wie das Lesen dieser Kapitel neuerlich tief berührt.
Noch nicht lange ist es her, dass ich die Gelegenheit hatte, Claude Lanzmannn selbst zu erleben. Anlass war die Vorstellung seiner Erinnerungen mit dem Titel „Der patagonische Hase“ im Berliner Ensemble. Lanzmann las selbst, ließ Peter Fitz lesen und sich anschließend befragen. Wer ihn bei alledem beobachten konnte – besonders bei den sich wiederholenden Pausen, die sich für ihn aus den Übersetzungen ergaben – vermochte leicht einen der wichtigsten Wesenszüge des heute 86jährigen auszumachen: eine Vitalität, die noch weit weg ist von jedwedem Insichruhen, das sich mit der Huldigung der eigenen Lebensleistung begnügt. Suchende Unruhe und vor allem die Neugier auf Menschen haben Lanzmann bis heute nicht verlassen. Er wirkt wie jemand, der auf dem Sprung ist zu Neuem und ungeduldig darauf wartet, starten zu können. Von „verdientem Ruhestand“ jedenfalls keine Spur; wer der nächstjüngeren Generation entstammt, kann sich durch ein solches Vorbild schon mal Komplexe zuziehen. Auch hundert Jahre, so hat Lanzmann selbst gesagt, hätten nicht ausgereicht, seine Neugier auf das Leben zu stillen – man glaubt ihm das aufs Wort.
Diese gefühlten 100 Jahre sind gar zu prall gefüllt mit zum Teil unglaublichen Erlebnissen, als dass hier der Versuch gemacht werden soll, den Inhalt der fast 700 Seiten der vorgelegten Erinnerungen zu referieren. Belassen wir es bei einer – sehr verknappten – Reihung der wichtigsten Stationen dieser Vita: die bedrohte Kindheit im besetzten Frankreich, die Kämpfe in der Résistance, der sich Lanzmann noch als Schüler anschloss und dabei von „Genossen“ zwischenzeitlich gar zum Tode verurteilt worden war, die Nachkriegsjahre als Philosophie-Dozent in Berlin und Tübingen, seine langjährige Arbeit als Journalist in Frankreich, Deutschland, Israel und anderswo in der Welt, als der er bis heute die von Sartre gegründete Zeitschrift Les Temps Modernes herausgibt. Und natürlich seine Freundschaft mit eben jenem Jean-Paul Sartre, mit Simone de Beauvoir oder Angelika Schrobsdorff und vielen weiteren Persönlichkeiten von kulturellem und/oder politischem Rang.
Zur „Pflichtlektüre für Deutsche“, hat die Zeit die  Erinnerungen Claude Lanzmanns erhoben; viele könnten in der Tat vieles daraus lernen, so sie denn interessiert daran wären zu erfahren, wie ein Mensch auch unter den schwierigsten Umstände ein integrer und lauterer Charakter bleiben kann, ein außerordentlich mutiger und kluger sowieso.

Claude Lanzmann, Der patagonische Hase, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2010, 682 S., 24,95 Euro