von Peter Hoffmann
Peter Hoffmann hatte beim Autorentreffen des Blättchens von der Vorbereitung eines Treffens erzählt, dass Kinder von Zeiss Jena-Spezialisten 70 Jahre nach ihrer Ausreise nach Russland im Oktober 1946 zusammenbringen sollte. Dieses Treffen hat im Oktober mit rund 50 Teilnehmern in Jena stattgefunden.
Die Redaktion bat den Autor um einen Bericht über seine Zeit in Krasnogorsk von 1946 bis 1951.
Im Oktober 1946 wurden deutsche Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker aus der sowjetischen Besatzungszone als Spezialisten im Rahmen der in Jalta beschlossenen Wiedergutmachung in die Sowjetunion „dienstverpflichtet“. Sie lebten und arbeiteten dort – meist mit ihren Familien – fünf bis sieben Jahre und kehrten dann nach Deutschland zurück. Es handelte sich in der Mehrzahl um Fachkräfte aus den Bereichen der Atom-, Raketen- und Flugtechnik. Aber auch andere Bereiche wie Optik, Elektrotechnik/Elektronik, Marineausrüstung, Textil waren vertreten. Nicht viel wurde über diesen Aspekt der Geschichte geschrieben. Hier ist meine persönliche Geschichte.
1946. Die Amerikaner hatten Jena längst verlassen und die russische Armee war eingezogen. Die Väter arbeiteten bei der streng bewachten Demontage der Zeiss-Werke. Alles wurde eingepackt: von den hochwertigen Maschinen und Geräten bis zu den Gemeinschaftswaschbecken in den Garderoben und den Lampenkugeln.
Am 22. Oktober wurde morgens heftig an die Tür geklopft. Wir schreckten hoch. Mein Vater verkündete: „Ich muss nach Russland…!“ Er war dabei sehr gefasst. „Beim Wiederaufbau helfen…“, so hieß es. Für drei oder fünf Jahre. Es war freigestellt, ob die Familie mitkäme – die Eltern und wir drei Söhne beschlossen zusammenzubleiben. Kurze Zeit darauf fuhr ein Lastwagen mit russischen Soldaten vor. Wir hatten zwei Stunden Zeit zum Aufladen. Mit der letzten Fuhre wurden wir alle mitgenommen. Nie vergesse ich den Moment, als unsere Straße meinen Blicken entschwand…
Auf dem Saalbahnhof in Jena wurden wir in die damals gebräuchlichen Personenwagen mit Abteilen einquartiert. Wir richteten uns für eine lange Bahnfahrt ein, mit Kisten zwischen den Bänken und Matratzen darauf. Viele Familien waren es. Und die Männer, als „nemjezkije spezialisty“ bezeichnet, konnten nun ermitteln, wer von den Zeiss-Angehörigen dabei war. Auf der einen Seite des Zuges waren die Türen verschlossen. Ein Posten ging auf und ab. Die Einstiegseite wurde natürlich auch von Soldaten bewacht. Unsere Eltern durften den Bahnhof nicht mehr verlassen.
Verpflegungspakete wurden ausgegeben. Schnell hatte sich der Name „Stalinpakete“ herumgesprochen. Die Pakete für die Väter waren reichlicher ausgestattet. Sie enthielten außer harter Wurst, Schiffszwieback, Dauerbackwaren, Konserven auch Zigaretten, Speck und Schokolade. Es hieß, dass wir in die Nähe von Moskau kommen sollten. Damit klärte sich die Ungewissheit ein wenig auf. Belastend aber war, dass der Zug nicht abfuhr. „Morgen … vielleicht“ hieß es nur. So machten wir erstmalig Bekanntschaft mit der russischen Ausdrucksweise „saftra budjet – ili potom“ (morgen wird [es] sein – oder später). „Saftra budjet“ begleitete uns in den folgenden Jahren in vielen Situationen. Es war Ausrede, Vertröstung auf Kommendes.
Nach zwei Tagen setzte sich der Zug endlich in Bewegung. Häufig blieben wir aber stehen. Dieses Nichtvorankommen vermittelte ein Gefühl von Endlosigkeit, das uns bis ans Ziel begleitete.
Wir überquerten die Oder über eine Brücke, die deutsche Kriegsgefangene aufgebaut hatten. Als unser Zug im Schritttempo die Brücke passierte, schien es als wüssten sie, was vorging. Hastig wurden Worte gewechselt. Dann waren wir schon am anderen Ufer und die Männer entschwanden unseren Blicken. An der Grenze standen polnische Offiziere. Sie salutierten und riefen uns zu: „Jetzt fahren Sie in das freieste Land der Welt.“ Das war wohl eher zynisch gemeint.
Wieder flaches Land. Vier oder fünf Tage rollte der Zug durch Polen. Wir verpflegten uns aus den Stalinpaketen. Wasser gab es aus Brunnen an der Strecke, immer an zufälligen Haltepunkten, so schien es mir. Bei so einem Halt ging es zu wie auf dem Markt. Polnische Frauen boten Obst, Gemüse, Milch, aber auch Schinken und Schokolade an und große runde Käse. Der Handel spielte sich durchs Fenster ab. Mir war es unbegreiflich, wo all diese wunderbaren Dinge so plötzlich herkamen.
Irgendwann erreichten wir den Rand einer größeren Stadt. Ringsum war alles zerstört. Wir fuhren ohne Halt. Jemand sagte: „Das muss Warschau sein.“ In einiger Entfernung sah man die in Deutschland demontierten Elektromasten aufgestapelt in unübersehbarer Menge und Kisten. Abstellgleise waren vollgestellt mit Elektroloks.
An der russischen Grenze in Brest-Litowsk wurden wir in russische Schlafwagen mit der breiteren Spurweite umquartiert. Die Güterwaggons mussten ebenfalls umgeladen werden und unsere Väter hatten den Vorgang zu überwachen. Dann wieder endlose Weite. Aber jetzt war alles anders. Zu festgelegten Zeiten nahmen wir gruppenweise in einem Speisewagen Platz. Es gab gutes Essen und wir lernten die russische Küche schätzen. Zu jeder Mahlzeit stand auch Brot auf dem Tisch. Stalinpakete waren überflüssig geworden. Zu jedem Schlafwagen gehörte eine „Deshurnaja“, bei der man jederzeit Tee bekommen konnte.
Der Zug fuhr Tag für Tag. Es machte sich das Gefühl breit, nie anzukommen. Bei Halt schlugen uns eisige Kälte und Wind entgegen. Ständig klapperte etwas blechern den Zug entlang. Ich erinnere mich bis heute sehr genau an diese Einzelheiten. Am 31. Oktober stand der Zug den ganzen Tag auf einem Bahnhofsgelände. Schnee fiel. Aussteigen durften wir nicht. Sind wir angekommen?
Tags darauf stieg eine Gruppe aus und wurde mit Bussen abgeholt. Dann eine weitere Gruppe. Ungewissheit. Wie wir später erfuhren, kam die erste Gruppe in ein ehemaliges Erholungsheim und die zweite in einen anderen kleinen Ort. Unser Zug fuhr dann mit den verbliebenen Leuten sehr langsam auf ein Fabrikgelände. Dort endlich stiegen auch wir aus und wurden unerwartet nobel mit PKWs zu einer Siedlung gefahren. Als wir vor den Häusern standen, in die wir einquartiert werden sollten, hatten wir Gewissheit. Wir waren am Ziel!
Uns fünf Personen war eine Dreizimmerwohnung mit Zentralheizung zugedacht. Die erste Nacht verbrachten wir auf dem Fußboden. Am nächsten Tag trafen die Lastwagen mit der übrigen Habe ein. Alles war angekommen, bis auf die Schrotsäge. Erleichterung. Unser Misstrauen verflog.
Es begannen die Wochen der Eingewöhnung. Auf dem Gelände unserer Siedlung hatte sich zuvor die „Antifa-Schule“, in der die Mitglieder des Komitees „Freies Deutschland“ ausgebildet worden waren, befunden. Die Gründung des Komitees ging vom Kriegsgefangenenlager Nr. 27 in Krasnogorsk aus, das man erst 1951 endgültig auflöste. Unsere Häuser waren von der übrigen Siedlung durch einen niedrigen Metallzaun getrennt. Es gab ein großes Eingangstor, das tagsüber offen stand, daneben ein Wachhäuschen mit der „Kommandantura“. Fünf doppelstöckige Holzhäuser, außen verputzt, standen für je acht Familien zur Verfügung. Ein Steinhaus war der „Klub“ mit Kino- und Veranstaltungssaal und Wohnungen in der oberen Etage. (In diesem Haus befindet sich heute das „Museum Deutscher Antifaschisten“.) Hier hatte man eine Gemeinschaftsküche eingerichtet. Deutsche Frauen kochten die erste Zeit zusammen mit russischen Frauen für uns alle. Irgendwann entfiel die Gemeinschaftsverpflegung und wir konnten in einem eigens für uns eingerichteten „Magasin“ selbst einkaufen. Hier erhielten wir alles, was auf Marken zugeteilt wurde: Lebensmittel, Textilien, Schuhe… Eine etwas barsche Verkäuferin gehörte dazu, in Wattejacke, weißem Kittel und weißer Haube. Die Preise berechnete sie mit einem Rechenbrett, wo sie die Kugeln blitzschnell hin und her fliegen ließ. Ich habe nie gelernt, in solcher Geschwindigkeit damit zu rechnen. Bei der wöchentlichen Abrechnung wurden die Marken mit angefeuchtetem Brot auf die Prawda geklebt.
Die Ankunft des von einem Pferd gezogenen Brotwagens war immer ein Ereignis. Im Winter wurde der Transportkasten für das Brot mit einem Schlitten transportiert. Die Kinder liefen dann jedes Mal mit lautem Ruf „chleb“ dem Gefährt entgegen, denn es kam nicht regelmäßig, und das Brot (es war ein spezielles Kastenbrot, außen knusprig und innen klebrig) musste – zumindest in der ersten Zeit – streng eingeteilt werden.
Ich wundere mich heute noch, wie wir den ersten, sehr kalten Winter in unserer dünnen Nachkriegskleidung und den einfachen Schuhen unbeschadet überstanden. Im nächsten Jahr hatte dann jeder einen wattegefütterten Wintermantel, eine „schapka“ und vor allem „walenki“. Das waren Filzstiefel, aus einem Stück gepresst und so steif, dass man in ihnen erst laufen lernen musste. Es gehörten noch Galoschen dazu. Die brauchte man besonders bei Tauwetter, denn die Walenki trockneten schlecht. Die lackglänzenden Gummiüberschuhe hatten noch eine andere, vornehmere Aufgabe. Bei schlechtem Wetter wurden sie über die guten Schuhe gezogen. Im Restaurant oder im Theater hatte man sie an der Garderobe abzugeben. So waren wir also für die künftigen Winter gerüstet. Der russische Winter mit seiner oft grimmigen Kälte, mit dem in der Sonne glitzernden Schnee, der bei jedem Schritt ein knirschendes Geräusch von sich gab, ist mir unvergessen geblieben. Später habe ich ihn oft vermisst.
Der Winter verabschiedete sich jedes Mal zögernd. Lange Zeit waren die festgetretenen Wege nachts noch gefroren. Wenn wir in den 1. Mai hinein feierten, und den Morgen mit einem Maispaziergang begrüßten, erschien es uns, als wäre das Erwachen der Natur auf diesen Tag festgelegt.
Obwohl die Front im Krieg ganz in der Nähe verlief – hier war die Hitlerarmee Moskau am nächsten gekommen – schien es uns gegenüber von Seiten der russischen Bevölkerung kaum Hassgefühle zu geben. Dabei lebten die Russen viel schlechter als wir: Drei Familien in einer Dreiraumwohnung, Öfchen im Zimmer mit Ofenrohr aus dem Fenster, keine oder oft nicht funktionierende Zentralheizung, ärmliche Kleidung. Man spürte, wie sehr das russische Volk unter dem Krieg gelitten hatte. In Moskau waren die Verhältnisse bedeutend besser.
Schnell fanden wir Kontakt zu russischen Kindern – und so zur Sprache. Wir konnten wir uns bald gut verständigen und wurden deshalb von unseren Eltern oft zum Einkaufen geschickt. Der kürzeste Weg in die Stadt führte durch den Wald. Dort gab es ein Kulturhaus mit Theater und Kino und einen Kulturpark, der gut gepflegt wurde. Hier fanden wir die abgebauten Gemeinschaftswaschbecken als große Blumenschalen und die Lampenkugeln als Lichterbögen über den Parkwegen wieder. Einige „magasini“, zwei „stolowaja“ (Gaststätte), eine „tschainaja“ (Teestube) und der „rinok“ (Markt) ergänzten das Gesamtbild. Auf dem Markt waren alle freiverkäuflichen lebenswichtigen Dinge zu haben: Milch, Kefir, Kartoffeln, Gemüse, Pilze und Beeren aus dem Wald, Zucker (stückweise!), Mehl, Brot, Streichhölzer, Seife (selbst gesiedet), Textilien (zum Teil gebraucht), Nägel, Schrauben, Schlösser… Das hier Angebotene hatten sich die Leute irgendwie abgespart oder selbst angebaut (viele besaßen hinter dem Haus ein Gärtchen und einen Stall mit Kuh oder Ziege).
Im April gingen unsere Väter immer noch nicht zur Arbeit. Das machte sie ungeduldig. Geld wurde dennoch monatlich ausgezahlt. Die Bezahlung war sehr gut, und die Hälfte davon konnte nach Deutschland überwiesen werden. Im Mai 1947 kamen dann auch die deutschen Familien aus den anderen Orten in unsere Siedlung. Wir mussten zusammenrücken und bildeten eine Gruppe von mehr als 300 Personen, etwa 100 davon waren die Spezialisten.
Das „normale“ Leben kam allmählich in Gang. Die Väter gingen inzwischen zur Arbeit in ein optisch-mechanisches Werk, welches während des Krieges hinter den Ural verlagert worden war. Deshalb war hier von der Ausrüstung kaum etwas übrig geblieben und musste neu eingerichtet werden. Zu den Aufgaben der weitgehend selbständig arbeitenden deutschen Spezialisten gehörte die Rekonstruktion oder Weiterentwicklung von Bild- und Vermessungsgeräten. Nach Konstruktion und Herstellung eines Erprobungsmusters übernahm die sowjetische Seite die funktionsfähigen Geräte, und überführte sie in die Produktion. Unsere Väter sahen betroffen, wie viele der in Deutschland demontierten Geräte und Maschinen ungenutzt auf dem Hof standen und verrosteten.
Überhaupt war es in der ersten Zeit schwierig, mit der russischen Mentalität und den Verfahrensweisen zurechtzukommen. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, dass einige unserer Väter an einem heißen Sommertag nach Hause geschickt wurden, um lange Hosen anzuziehen. „Nix kultura“ war die Begründung. Das „saftra budet“ wurde ohne weitere Erklärung immer dann angewendet, wenn etwas nicht funktionierte oder man auf etwas wartete.
Der Postverkehr nach Deutschland gestaltete sich ebenfalls problematisch. Es kamen nur Postkarten an. Deshalb wurden sie in Fortsetzungen geschrieben und nummeriert. Pakete konnten wir „nach Hause“ schicken. Darin waren Dinge enthalten, die in Deutschland nicht oder nur schwer zu bekommen waren: Tee, Seife, Kerzen, Hirse oder Reis, Zwirn, rohe Wolle, ungerösteter Kaffe, Schokolade, Keks. Zigaretten waren nicht zugelassen. Aus Deutschland hingegen erhielten wir alle Post vollständig, auch Zeitungen und Kalender, aber zwei bis drei Wochen musste man darauf warten.
In unserer deutschen Gemeinschaft entwickelte sich ein reges Kultur- und Sportleben. Ein Chor wurde gegründet und ein Kammerorchester. Es gab sogar Musikunterricht. Jährlich fand ein Sommerfest statt, das mit großem Eifer vorbereitet wurde. Gemeinsames Singen, Puppentheater, Volkstanz, Theaterspiel, Zauberkunst, Tombola. Die Thüringer Bratwürste, selbst gefertigt, durften natürlich nicht fehlen. Den Abschluss bildete stets ein Lampionumzug und abends war Tanz. Die russischen Kinder schauten interessiert, und ich glaube auch neidvoll, zu. Zum Sportfest gehörten Waldlauf, Leichtathletik, ein Faustballwettbewerb und Schwimmen im nahegelegenen Stausee. Natürlich wurde auch Wintersport getrieben.
Wir konnten Theater, Konzerte, Museen und Galerien in Moskau besuchen. Das Bolschoi Theater mit Opernaufführungen und dem berühmten Russischen Ballett stellten dabei Höhepunkte dar. Uns fiel das große Kulturbedürfnis der russischen Menschen, insbesondere in Moskau, auf. Theaterkarten waren schwer zu beschaffen, vor den großen Galerien musste man Schlange stehen. Überall Lesende: beim Anstehen irgendwo – was zum täglichen Leben gehörte, beim Warten auf den Bus, in der Metro. Bereits so kurz nach dem Kriegsende funktionierten die Moskauer Metro, der Bus- und Trolleybusverkehr erstaunlich gut. Perfekt war das Schneeräumen organisiert. Die wichtigen Straßen waren stets schneefrei.
Die Fahrten nach Moskau erforderten eine russische Begleitung. Auch Einkaufsfahrten waren auf diese Weise nach Anmeldung in der Kommandantura möglich. Für entsprechende Preise gab es vieles wieder zu kaufen: Kaffee, Tee, Schokolade, Schinken Butter, Fischkonserven, sogar Kaviar und Sekt. In kleinen Mengen konnten wir uns das leisten. Die russische Verkaufspraxis war bemerkenswert, zuerst musste man die Ware aussuchen, sich den Preis merken und der Kassiererin, die in einer besonderen Kabine saß, ansagen. Die Ware nahm man dann gegen den Bon am Ladentisch in Empfang.
Ungeachtet eines vorgegebenen Bewegungsradius’ unternahmen wir Ausflüge in die Umgebung. So kam ein Zeltlager, etliche Kilometer entfernt, mitten im Wald zustande. Die Zelte dazu konnten wir uns in Moskau ausleihen, unter Angabe der „Wanderroute“. Das galt für jedermann und nicht nur für uns Deutsche. Wir lebten ja während der Stalinzeit in der Sowjetunion. Da bekamen auch die russischen Bürger nicht ohne Weiteres eine Bahnfahrkarte in eine andere, weiter entfernte Stadt.
Einmal nahm man einen unserer Spezialisten für drei Tage in Moskau in Haft. Er hatte in der amerikanischen Botschaft in Moskau um unsere Rückkehr nachgesucht, was natürlich ohne Erfolg blieb. Eine deutsche Frau aus der Moskauer Gruppe ist für ein Jahr ins Arbeitslager geschickt worden, weil sie den russischen Posten geohrfeigt hatte. Er wollte ihr Kind nicht zum Spielen auf die Straße lassen. Diese Maßnahmen dienten der Abschreckung. Wer unauffällig lebte, dem geschah nichts.
Im ersten Jahr unterrichteten uns die Eltern in den wichtigsten Fächern. Im September 1947 wurde in unserem Klub eine Spezialschule eingerichtet, mit russischen Lehrern und deutschsprachigem Unterricht. Der allmähliche Übergang in die russische Sprache war für uns eine große Erleichterung. Auf diese Weise gab es später in der russischen Schule kaum Schwierigkeiten.
1950 kamen die Älteren von uns Kindern in die Erste Krasnogorsker Schule, die von deutschen Kriegsgefangenen gebaut worden war. Drei Mädchen und drei Jungen wurden auf zwei Parallelklassen verteilt. Von Anfang an bestand ein gutes Verhältnis zu den Lehrern und Mitschülern. Wir genossen jetzt größere Freiheiten, nahmen an vielen Veranstaltungen und Ausflügen teil, waren auch oft in Moskau und kannten uns inzwischen dort sehr gut aus. 1951 legten alle Schüler unserer Klasse das Abitur ab.
Zur Abschlussfeier überreichten mir meine russischen Mitschüler ein sehr schönes Geschenk: Zwei kleine Bronzebüsten von Puschkin und Tschaikowski. Sie stehen noch heute auf meinem Schreibtisch. Die persönliche Verabschiedung des Schuldirektors ergriff mich sehr. Er sagte, dass er die deutschen Schüler als gute Klassenkameraden und Menschen kennengelernt habe. Wir mögen ihm verzeihen, dass er uns gegenüber immer etwas streng gewesen sei. Es stellte sich heraus, dass seine ganze Familie von der SS umgebracht worden war. Diese menschliche Größe habe ich sehr bewundert.
Nach kurzer Krankheit verstarb mein Vater am 1. März 1950 mit nur 40 Jahren.Das war sehr schmerzlich und wenn ich im Bett lag, vergoss ich heimlich Tränen. Wir wurden aber nicht allein gelassen. Die anderen Familien unterstützten uns, tröstlich besonders für meine Mutter. Wir sollten nun früher nach Hause kommen. Anderthalb Jahre später war es soweit. Zusammen mit neun weiteren Deutschen flogen wir nach Berlin und reisten von dort aus weiter nach Jena. In Jena wurde uns ein festlicher Empfang bereitet. Ich erlebte das alles wie im Traum. Wir waren wieder in der Heimat – jetzt die DDR.
Die fünf Jahre Sowjetunion haben mich geprägt, meine Sicht auf das Leben bereichert. Manchmal wird mir eine „russische Seele“ nachgesagt. Ich möchte diese Zeit nicht missen.
Dr. Ing. Peter Hoffmann, geboren 1934 in Jena, lebt und arbeitet in Berlin. In der DDR war er wissenschaftlich tätig, nach 1990 Auslandsaufenthalte als Entwicklungshelfer, nebenbei – bis heute – künstlerische Tätigkeit (Malerei, Grafik, Reiseskizzen, Buchillustrationen). Ausstellungen im In- und Ausland.
Schlagwörter: Carl Zeiss Jena, Krasnogorsk, Kriegsgefangene, Peter Hoffmann, Sowjetunion, Spezialisten, Wiedergutmachung