von Hermann-Peter Eberlein
Vor fünfzig Jahren, am 9. November 1966, starb in Heidelberg Richard Benz, Privatgelehrter.
Privatgelehrter?
Gibt es das noch?
Es gibt ein akademisches Prekariat: Privatdozenten, die sich von Vertretungsprofessur zu Vertretungsprofessur hangeln, Lehrbeauftragte, die von Volkshochschul-Kursen leben, Historiker, die sich als Stadtführer verdingen.
Aber Privatgelehrte – Menschen, die bewusst nichts anderes sein wollen als unabhängige, private Gelehrte?
Richard Benz verkörperte vielleicht als einer der letzten diesen Typus – er konnte es sich leisten.
1884 wird er in Reichenbach im Vogtland als Sohn des Stadtpfarrers geboren. Fünf Jahre später zieht die Familie nach Dresden, wo der Vater zunächst Hofprediger, bald Superintendent und Konsistorialrat wird. Die Musikalität des Elternhauses, die protestantische Wortkultur, das Dresdner Barock prägen den Jungen. Er besucht die Kreuzschule und besteht im Frühjahr 1902 die Reifeprüfung. Im Sommersemester geht er zum Studium der Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte nach Heidelberg.
Die Stadt wird seine Passion werden – doch noch nicht sofort. Von der Nüchternheit mancher Vorlesungen ist er enttäuscht, hatte er doch „geistiges Führertum, Anleitung zu höherem Streben, Einblick in Ungeahntes“ erwartet – es ist dasselbe Vokabular, wie wir es vom George-Kreis kennen. Ein Semester verbringt Benz in Leipzig, eines in München, dann kehrt er in die Neckarstadt zurück, wo er im Hebbel-Verein seine geistige Heimat findet und mit einer Arbeit über die Märchendichtung der Romantik promoviert wird. Die Heirat mit der Tochter eines wohlhabenden Heidelberger Konsuls erlaubt es ihm, auf eine akademische Karriere zu verzichten und fortan als freier Schriftsteller und Herausgeber zu leben: für wenige Jahre in Freiburg, seit dem Tode des Schwiegervaters 1910 endgültig in Heidelberg.
Seither engagiert sich Benz im kulturellen Leben der Stadt: etwa in der Gemeinschaft Die Pforte, die im Palais Weimar eine eigene Druckwerkstatt unterhält, oder als musikalischer Berater der Schlossfestspiele. Angeregt von den Heidelberger Romantikern beschäftigt er sich intensiv mit spätmittelalterlicher deutscher Prosadichtung, die er in den „Deutschen Volksbüchern“ neu herausgibt. Zum Standardwerk wird seine Übersetzung von Jacobus de Voragines „Legenda aurea“, die 1917 bis 1921 erscheint. Auf die Gestaltung seiner Bücher nimmt er direkten Einfluss: Die Schönheit von Einband und Drucktypen ist ihm wichtig. Zunehmend erkundet Benz die deutsche Geistes- und Kulturgeschichte: Er beschäftigt sich mit Wackenroder und E.T.A. Hoffmann, mit Beethoven und Schubert, Novalis und Goethe, mit Bettine Brentano und Heinrich von Kleist. Seine Forschungen trägt er in großangelegten Studien zusammen: „Die Stunde der deutschen Musik“, in zwei Bänden 1923 und 1927 erschienen, „Die deutsche Romantik“ (1937), „Deutsches Barock“ (1949), „Die Zeit der deutschen Klassik“ (1953).
Kein Zweifel: Benz ist ein Kulturkonservativer mit ausgesprochen völkischer Semantik, der sich nicht scheut, Romanik, Gotik, Barock und Romantik als der deutschen Kultur eigentümlich, Renaissance und Klassik als ihr wesensfremd zu klassifizieren. Rassist oder Antisemit aber ist er nicht: Seinen jüdischen Freunden, darunter dem esoterischen Dichter Alfred Mombert, der 1940 in ein Internierungslager deportiert wird, bleibt er treu – dass er nicht mehr für Mombert (er stirbt 1942 im Schweizer Exil) tun kann, als dessen geliebte Bibliothek zu retten, führt ihn in eine ernsthafte gesundheitliche und mentale Krise. Bei den Nazis gilt Benz als individualistischer Intellektueller der bürgerlichen Reaktion; sein 1933 erschienenes und sehr erfolgreiches Buch „Geist und Reich. Um die Bestimmung des Deutschen“ wird 1935 verboten, da es sich „mit den heute herrschenden Grundsätzen und Anschauungen nicht mehr vereinbaren lässt“. Benz zieht sich ganz auf die Kulturgeschichte zurück, was ihn aus der Schusslinie bringt; dass er allerdings während des Krieges im Auftrage des Propagandaministeriums eine Vortragsreise durchführt, bringt ihm ein zeitweiliges Publikationsverbot durch die Alliierten ein.
Wenige Jahre später schien ein solcher Mann aber wie dazu geschaffen, das rückwärtsgewandte kulturelle Selbstbewusstsein der Adenauer-Ära zu repräsentieren. Der Privatgelehrte wird zum Grandseigneur des Geistes stilisiert und mit Ehren überhäuft: Er erhält das Bundesverdiernstkreuz und die Ehrengabe des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft, die Stadt Heidelberg verleiht ihm die Ehrenbürgerwürde, die Heidelberger Akademie der Wissenschaften wählt ihn zu ihrem Mitglied, schließlich ernennt ihn die Philosophische Fakultät der Universität nach einiger Gegenwehr zum Honorarprofessor.
Heute ist er vergessen; nur die zehn Jahre nach seinem Tode von der Stadt Heidelberg gestiftete Richard-Benz-Medaille für Kunst und Wissenschaft (Preisträger waren unter anderen Wolfgang Fortner und Hilde Domin, heute sind es Sponsoren und Mäzene) erinnert an ihn. Seine Bücher werden in Antiquariaten verramscht.
Um ein Buch ist es dabei schade: „Heidelberg, Schicksal und Geist“, im Auftrage der Stadt 1961 veröffentlicht. Hans-Georg Gadamer, im hohen Alter selbst eine Heidelberger Ikone, hat es eine „meisterhafte Stadtbiographie“ genannt und der zweiten Auflage 1975 eine schöne Einführung mitgegeben. Die Kulturgeschichte einer Stadt unter bewusster Ausblendung der ökonomischen und sozialen Basis und endend noch vor Beginn des Ersten Weltkrieges – so etwas könnte man heute nicht mehr schreiben, noch dazu ohne jeden wissenschaftlichen Apparat. Und doch: Es ist Benz gelungen, etwas vom genius loci seiner Wahlheimat einzufangen – und so taucht man ein in die Welt Ottheinrichs und Friedrichs III., der den Heidelberger Katechismus in Auftrag gab, schaut durch die Fenster des Sapienzkollegs, um teilzunehmen an den Debatten zwischen den großen reformierten Theologen aus ganz Europa: David Pareus aus Schlesien, Daniel Tossanus aus Montbéliard, den Italienern Tremellius und Zanchi. Man sieht das Feuerwerk aufleuchten über dem Stückgarten anlässlich der Hochzeit Friedrichs V. mit der englischen Königstochter Elisabeth Stuart und man sieht eben diesen Friedrich, den Winterkönig, seine Heimat verlassen als geschlagenen Flüchtling. Man wendet sich ab von dem brennenden Inferno, das General Mélac im pfälzischen Erbfolgekrieg hinterließ und spürt die zarten Keime der Poesie bei den Ruinen sich regen zwischen Marianne von Willemer und Goethe, Hafis und Suleika. Man bewundert die Gemäldesammlung der Brüder Boisserée in ihrem Palais am Karlsplatz und die Hartnäckigkeit, mit der Charles de Graimberg die Schlossruine vor dem Abriss bewahrte. Die klare Analytik eines Max Weber, die Historismustheorie von Ernst Troeltsch, die Zerstörung der Ruperto-Carola durch die Nazis – das alles ist nicht mehr Benzʼ Welt.
Privatgelehrte konnten sich solchen Subjektivismus leisten – ein Verlust eigentlich, dass es sie nicht mehr gibt.
Schlagwörter: Heidelberg, Hermann-Peter Eberlein, Richard Benz