19. Jahrgang | Nummer 23 | 7. November 2016

Aus dem Zirkus Leben

von Horst Drescher

Bildende Kunst
Man muß sich allen Ernstes fragen, ob es richtig gehandelt war, als sich der Bildschnitzer Tilman Riemenschneider in der Stunde der Bewährung auf die Seite der Bauern gestellt hat, da ihm ja dafür die Hände zerbrochen wurden von den Siegern der Geschichte. Und wohl nicht nur die Hände.
Welche Werke der Kunst hätten wir noch erhalten aus den Händen des Tilman Riemenschneider, wenn er sich abseits gestellt hätte! Aber er hatte wohl keine Wahl.

Chinesische Weisheiten
Natürlich besiegt das Weiche das Harte. Aber es können schon hundert Köpfe fallen, ehe das Beil stumpf ist.

Das Oberhaupt
Ein Jahr lang habe ich mir nun diesen neuen Papst angesehen in den Medien, diesen Papst Johannes Paul II.; diesen „polnischen Papst“; und ich bin zu der Erkenntnis gekommen, das ist ein Mann, der ist mit allen Wassern gewaschen. Natürlich auch mit Weihwasser.

Das Wort zur Sache
Einer, der mit seiner Familie und mit seinem Staate gleichzeitig in Konflikt geriet, der wußte zu allen Zeiten, was ein Syndrom ist. Der wußte das schon zu Zeiten, als dieser lebensgefährliche Terminus noch gar nicht erfunden war.

Der Helfer in der Not
Das Konzentrat der Weisheit des Volkes, es lautet: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott! Oftmals aber ist einer so elend eingeklemmt, daß er sich selbst nicht zu helfen vermag; und da kann Gott natürlich auch nur noch mit der Schulter zucken.

Der mittlere Weg
Es dürfte einer der folgenreichsten Umstände des menschlichen Denkens sein, daß die Erscheinungsformen sorgfältigsten Abwägens und denkfauler Unent­schlossenheit zufällig die gleichen sind: der mittlere Weg.
Weisheit und Unschlüssigkeit gehen Hand in Hand auf den ersten Blick. Und wer sieht schon zweimal hin.

Deutschlektion
Im Deutschen hat „etwas machen können“ eine Doppelbedeutung; es bedeutet: etwas zu machen vermögen und: es gestattet bekommen. Fähigkeit und Genehmi­gung.
Nicht von ungefähr gilt die deutsche Sprache als eine tiefsinnige Sprache, und wohl nicht von ungefähr hat ein Deutscher die Dialektik entwickelt.

Dialektik
Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Welch ungeheure Verkrüppelungen eines Menschen vom feurigen Blick des naiven Freundes Hölderlins am Tübinger Stift bis hin zu dem mißtrauischen Blick des mächtigen ordentlichen Professors der Philosophie in Berlin.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Welch ungeheure Entfaltungen eines Menschen vom feurigen Blick des naiven Freundes Hölderlins am Tübinger Stift bis hin zu dem mißtrauischen Blick des mächtigen ordentlichen Professors in Berlin.
Wer sollte die Hegelsche Dialektik entwickeln, wenn nicht ein Georg Wilhelm Friedrich Hegel.

Die doppelte Last
Der couragierte einzelne muß doch von den anderen nicht nur vorsichtigerweise im Stich gelassen werden; man muß ihn auch abwerten. Wie stünde man denn sonst da. Vor den anderen und vor sich.

Die eigene Logik
Sprache hat ihre eigene Logik. So darf es das bürgerliche Gesetzbuch geben, aber nicht den vierstöckigen Hausbesitzer; obwohl da sprachlich keinerlei Unterschied ist.
Und ein „Nestbeschmutzer“ ist nicht einer, der ins Nest scheißt, das ist einer, der laut sagt, wie beschissen das Nest ist. Man sieht, nicht nur die Sprache hat ihre eigene Logik.

Die ganz Richtigen
Wer etwas macht, der wird auch bald jene kennenlernen, die auch einem Mozart gesagt hätten: „Also eigentlich müßte es heißen ‚Cosi fan (fast) tutte‘!“

Die Macht der Benennung
Die Gaststätten-Aktion „Sie stehen vor der Tür, bis wir Sie holen“ wäre nicht vier Wochen durchzuhalten gewesen. Unter der Deckbezeichnung „Sie werden plaziert“ wird diese Frechheit den Gästen gegenüber schon mehrere Jahre praktiziert.
Der Gast murrt, aber die charmante Benennung hält ihn nieder.

Die wahre Pilatusfrage
So inhaltsschwer die Frage auch sein mag, was Wahrheit sei; noch gehaltvoller erscheint mir die Frage, wem mit ihr gedient ist.

Dieser Bauernfänger-Spott
Mißtrauen sei die Klugheit, zu der es auch die Dummen bringen, sagt eine gewisse Sorte Intelligente. Und wie sie dabei lächeln! Hoffentlich achten die naiven Treu­herzigen auf dieses Lächeln und sind angemessen mißtrauisch.

Wird fortgesetzt.

Auswahl aus: Horst Drescher – Aus dem Zirkus Leben. Notizen 1969 – 1986, Edition Neue Texte, Aufbau-Verlag, Berlin 1987.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors. Die Schreibweise des Originals wurde beibehalten.