von Kai Köhler
Harry Thürk (1927-2005) erfreute sich in der DDR einer Millionenauflage und wurde nach deren Ende an den Rand des literarischen Lebens verwiesen. Im Unterschied zu anderen vor 1989 erfolgreichen Autoren – wie etwa dem Komödiendichter Rudi Strahl – ist er nicht völlig vergessen; der Mitteldeutsche Verlag bringt immer wieder Neuauflagen seiner Bücher heraus, die auch ihre Leser finden. Doch für den offiziellen Literaturbetrieb existiert er nicht mehr.
Das überrascht wenig, denn Thürk hatte nichts an sich, was als dissidentisch gerettet werden könnte. Thema seines Romans „Der Gaukler“ von 1978 ist, wie die CIA einen sowjetischen Oppositionellen zum Nobelpreisträger aufbaut. Dabei ist die negative Hauptfigur leicht als Alexander Solschenizyn zu entschlüsseln. Wer die heiligen Kühe des Menschenrechtsbetriebs schlachtet, muss eben die Hoffnung auf West-Sympathien begraben. Dennoch bleibt zu hoffen, dass der Stoff „Geheimdienste und Künste im Kalten Krieg“ einmal nicht mehr mit den hinlänglich abgegriffenen Stasi-Klischees behandelt wird; „Der Gaukler“ könnte dafür anregend wirken.
Nun war grundsätzliche Übereinstimmung mit der DDR niemals eine Garantie für Schriftsteller, nicht doch kulturpolitische Probleme zu bekommen. Thürk geschah dies mit dem Kriegsroman „Die Stunde der toten Augen“, der 1957 erschien.
Die Handlung ist in Ostpreußen im Spätherbst 1944 angesiedelt. Eine Gruppe von deutschen Fallschirmjägern wird immer wieder hinter der Front abgesetzt, um die sowjetischen Vorbereitungen für eine Offensive zu stören. Anführer ist der brutale Unteroffizier Timm: „Wo ich bin, wird gestorben.“ Der mordfreudige Nazi kennt sich mit Menschenführung aus und weiß genau, wo er mit Härte befehlen muss und wo er besser scheinbare Freiheiten lässt. So schafft er es auch, dass die beiden anderen wichtigen Figuren des Buchs, die keine überzeugten Faschisten sind, bis fast zuletzt effektiv kämpfen.
Der Soldat Zadorowski ist von Beruf Zirkusartist und privat verbittert, weil er auf seinen Fahrten herumhurte und darum jede Frau für eine Hure hält. Zu Kriegsbeginn geriet er aus politischen Gründen in eine Schlägerei und hat sich zu der Elitetruppe gemeldet, um der Gestapo zu entgehen. Viel empfindsamer ist der Soldat Bindig. Während Zadorowski routiniert zu morden gelernt hat, kann Bindig zwar während der Einsätze effektiv töten. Danach aber überkommt ihn zuweilen der Schrecken. Die „toten Augen“ des etwas sensationsheischenden Romantitels beziehen sich darauf.
Bindig nun ist es, der sich verliebt, und zwar in die einzige Frau, die in dem Dorf nahe des Truppenstandortes zurückgeblieben ist. Anna hat scheinbar einen geistig zurückgebliebenen Knecht; doch merkt Bindig eines Tages, dass es sich tatsächlich um einen Offizier der Roten Armee handelt, der verwundet bei einem sowjetischen Vorstoß zurückgelassen und von Anna gerettet wurde. Er kann nun den Feind nicht verraten, ohne auch seine Geliebte auszuliefern. In diesem Zwiespalt wird er in ein letztes Kommandounternehmen geschickt, das katastrophal scheitert.
Nur die drei Hauptfiguren schaffen es zurück in das Dorf, das inzwischen von der Roten Armee besetzt ist. Der schwerverletzte Timm tötet in einer letzten Aktion den friedlich in Annas Stube sitzenden Offizier. Bindig und Zadorowski geraten beim Versuch, die nach Westen gerückte Frontlinie zu überqueren, ins Feuer beider Seiten und werden schließlich – weil der Kommandotrupp zur Tarnung sowjetische Uniformen trägt – von den eigenen Leuten getötet.
Das Buch wurde in der DDR schnell zum Erfolg, aber schon 1958 aus den Bibliotheken entfernt (und erst wieder toleriert, als die Übersetzung in der unverdächtigen Tschechoslowakei zu einem Erfolg wurde). Sowjetischer Einspruch verhinderte eine geplante Verfilmung; Hauptbedenken war die Darstellung des Offiziers der Roten Armee und seine allzu lässig-vertrauensselige Haltung gegenüber Bindig. Hauptproblem war ein anderes.
Amazon schädigt den Buchhandel und beutet die Angestellten aus. Für den Literaturhistoriker nützlich sind indessen die Leserrezensionen, die Hinweise auf die tatsächliche Rezeption geben. Ein Kommentator erinnert sich, wie in den Spezialeinheiten der NVA der Roman nach Erscheinen „fast ‚bibelartig‘ gelesen wurde“. Er erlebte persönlich, wie die Soldaten das Buch „von Mann zu Mann“ weitergaben und „fachspezifisch“ interpretierten. Beim Wiederlesen Jahrzehnte später erkennt er die Warnung vor dem Krieg und meint abschließend: „Wir jungen Kerle sahen jedoch diese ‚andere Botschaft‘, die Thürk SO nicht meinte. In diesem Punkt erkenne ich heute die (unbeabsichtigte) Schwäche des Romans. Wir wollten damals nur DAS lesen, was uns wichtig erschien.“
Einerseits lässt sich eine Lesart, die sich mit der dargestellten Gewalt identifiziert, durch den Roman nicht belegen. Timm wird im Verlauf der Handlung immer mehr als sadistischer Mörder entlarvt, zudem als Mann, der seine Ehefrau zerstört und der bedenkenlos vergewaltigt – die Wirkungen von Faschismus und Krieg werden auch durchs Verhältnis der Männer zu Frauen gezeigt. Zadorowski wollte nie Soldat sein und erkennt zuletzt, unterm Feuer der Wehrmacht, dass er sich hätte auflehnen müssen, statt einfach nur pragmatisch mitzumachen. Das begreift zu spät auch Bindig, der nicht damit zurechtkommt, dass er ein professioneller Mörder geworden ist. Als er bei Anna eine Dose mit Konservenfleisch öffnet und ihm der blutige Saft entgegenquillt, muss er an seine Messerattacken denken und sich übergeben; in diesem Moment versteht der sowjetische Offizier, der noch als scheinbar blöder Gehilfe in der Küche zuschaut, dass Bindig doch nicht völlig verdorben ist und beim Wiederaufbau Deutschlands helfen könnte.
Dabei verwendet Thürk Entlastungsstrategien, wie sie seit Theodor Pliviers noch in den letzten Kriegsjahren entstandenem Roman „Stalingrad“ in Ost wie West gängig wurden. Die effektiv kämpfenden Frontschweine stehen gegen korrekt-bedrohlichen Drückeberger von der Feldgendarmerie und gegen vorsichtige Etappenoffiziere. Es handelt sich auch um eine Opfererzählung, nämlich von einer „Generation, der sie das Rückgrat gebrochen haben. Wir haben es erst gemerkt, als wir uns aufrichten wollten. […] Ich glaube, es ist noch nie zuvor eine Generation so zerbrochen gewesen wie wir.“ So sieht es Zadorowski, als er schon tödlich verwundet unter dem Beschuss beider Seiten liegt, und keine Instanz widerspricht diesem Fazit.
Allerdings sind die Hauptfiguren etwas älter als der Autor Thürk und nicht erst im Faschismus aufgewachsen. Timm, Jahrgang 1912, ist seit 1930 bei der SA; Zadorowski hat als erwachsener Zirkusartist in den 1930er Jahren schon Europa durchreist. Nur Bindig kommt als ganz junger Mann in den Krieg. Die Handlung ist außerdem klüger als das Fazit, weil Thürk Klassenunterschiede benennt. Der Kompaniechef aus gutem Haus, dem sein Onkel in gefährlichen Lagen Sonderurlaub sichert, lässt Timm gewähren und dürfte auch die paar letzten Kriegsmonate noch überleben und danach eine nette Westkarriere starten. Dass die Hoffnungen der Landser, die sich an politisch organisierten Feldpostbriefen von vornehmen Fräuleins aufgeilen, vergeblich sind, das zeigt Thürk klar genug. Er gibt auch Nebenfiguren sozial sehr genau gezeichnete Vorgeschichten und weitet so den Blick auf das Ganze der faschistischen Gesellschaft aus.
Warum also noch ein Andererseits? Schließlich hatte der Schriftstellerverband der DDR 1957 eine Tagung zum Thema Kriegsroman abgehalten und damit die Bedeutung des Genres betont. Allerdings hieß es in dem Leitreferat von Hermann Kant und Frank Wagner auch: „Selbstverständlich soll der Autor die ideologische Reichweite seines Romans, seines Gedichts oder seines Schauspiels nicht wieder einschrumpfen lassen auf die in dieser Hinsicht kümmerlichen Verhältnisse im faschistischen Heer; das Werk als Ganzes muss unseren heutigen Erkenntnisgrad erreichen, sonst sind wir wieder beim platten Naturalismus, aber der Autor muss sich anderer Mittel bedienen als der Ausrüstung seines Helden mit phantastischer Sehergabe.“
Das Bedenken von Kant und Wagner, dass es in Kriegsbüchern der DDR „schon fast wieder zu unblutig“ zugehe, trifft zwar auf „Die Stunde der toten Augen“ nicht zu. Thürk beschreibt zerfetzte Schädel und Unterleiber. Aus heutiger Sicht wirkt das zwar eher harmlos, denn Kino und Literatur haben sich in den vergangenen 60 Jahren entschieden brutalisiert. Aber heutige Leser und Zuschauer reagieren auf drastische Details auch darum eher unempfindlich, weil diesen keine konkrete Erfahrung entspricht – während die meisten Leute 1957 wussten, wie ein verstümmeltes Kriegsopfer aussieht.
Dies führte zum Vorwurf, Thürk sei Naturalist. „Thürk ist dem Objektivismus verfallen“, schrieb Franz Hammer am 30. März 1958 in der Beilage „Kunst und Kultur“ zum Neuen Deutschland. „Das Wesen des Zweiten Weltkriegs ist mit der naturalistischen Schilderung selbst der grausamsten Details nicht zu erfassen.“ Das Verdikt traf nicht nur Thürk. Die Vorstandssitzung des Deutschen Schriftstellerverbands vom 11. und 12. Juni 1959 hatte als Thema „Die Realität ist hart – was ist mit der harten Schreibweise?“ Auf dem Treffen wurde nicht nur über Kriegsromane gesprochen, sondern auch über Schilderung des Produktionsalltags in Siegfried Pietschmanns Roman „Erziehung eines Helden“, der darum erst im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde. Im Augustheft von Neue deutsche Literatur, der Zeitschrift des Schriftstellerverbands, urteilte dann Eva Strittmatter in einer Aburteilung unter dem Titel „Nachahmen oder Nachstreben“: „Thürk nimmt für die falsche Seite Partei, für die Mörderelite.“
Die Kritik hat eine inhaltliche und eine formale Dimension, und beide sind miteinander verknüpft. Bereits Strittmatter führt Berichte über Leser an, die die Sportlichkeit und Kaltblütigkeit der Soldaten beim Töten bewundern; ihre Gewährsleute sind Lehrer und Bibliothekare. Sie benennt die Stellen, an denen die Soldaten als Opfer des Faschismus erscheinen. Freilich wird sie dem Roman nicht gerecht, wenn sie behauptet, dass die Soldaten keine Hemmungen mehr beim Töten hätten. Gerade für Bindig, um den es ihr in dieser Passage geht, trifft dies nicht zu.
Auf der formalen Ebene beklagt Strittmatter, dass jüngere Autoren wie Thürk an US-amerikanische Schriftsteller wie Norman Mailer oder Ernest Hemingway anknüpften. Diese seien anarchistisch, fatalistisch und erklärt antikommunistisch. Eine abstrakte Feindschaft gegen das Militär wie in Norman Mailers Kriegsroman „Die Nackten und die Toten“, den Strittmatter als Vorbild Thürks nennt, sei unter US-Verhältnissen zwar fortschrittlich, entspreche jedoch keinesfalls dem marxistischen Erkenntnisstand.
Hier kommt eine grundsätzliche Unterscheidung ins Spiel, nämlich die zwischen Naturalismus und Realismus. Ersterer schildert genauestens die Einzelheiten und behauptet, damit das Ganze zu erfassen. Dies ist eine statische Verfahrensweise. Letzterer hat ein Verständnis der historischen Entwicklung und konkretisiert diese anhand von Einzelheiten. Für Eva Strittmatter fällt Thürk dem naturalistischen Irrtum zum Opfer: „Thürks Grundhaltung ist objektivistisch, und ihr entsprechen seine Darstellungsmittel – der minutiösen, verselbständigten Detaillierung des Greuels.“
Wer „Die Stunde der toten Augen“ aufmerksam gelesen hat, weiß, dass dies falsch ist. Die Gräuel haben sich nicht verselbständigt, sondern es lässt sich Fall für Fall eine Funktion für die Entwicklung der Hauptfiguren angeben. Thürks Roman entspricht weitgehend dem, was Kant und Wagner ein Jahr zuvor vom sozialistischen Kriegsroman gefordert hatten: dass nicht der Autor bequem eine zur Identifikation einladende Figur als Sprachrohr fortgeschrittenen Bewusstseins aufbieten, sondern eine allmähliche und widersprüchliche Erkenntnis gestalten solle.
Beunruhigend und ungelöst bleibt das Problem, dass Strittmatter das Richtige fordert; dass – anders als sie meint – ihre Forderung eingelöst ist; und dass dennoch die Leser genauso reagieren, wie sie es beim falschen Modell tun müssten.
Thürk jedenfalls umging in der Folge das Minenfeld. 1960 erschien noch „Das Tal der sieben Monde“, eine ebenfalls im letzten Kriegsjahr angesiedelte deutsch-polnische Liebesgeschichte. Das Buch, das die Brutalität der Nazis durchaus anschaulich macht, aber ohne Gewaltszenen wie in „Die Stunde der toten Augen“ auskommt, wurde 1966 von der DEFA verfilmt. Doch wendete sich Thürk anderen Stoffen zu. Mehrfach war er als Korrespondent in Ostasien gewesen. Nun gestaltete er in Romanen und Dokumentationen die vielfältigen Kämpfe, die es in diesem Raum im 20. Jahrhundert gab. Erst zwanzig Jahre nach „Die Stunde der toten Augen“ erschien mit dem „Gaukler“ ein wichtiges Buch außerhalb dieses Zusammenhangs – ein realistisches Buch, das auf den Hauptkonflikt der Epoche zielte.
Dr. Kai Köhler, Jahrgang 1964, lebt nach Studium in Marburg und Lehrtätigkeit in Seoul als Literaturwissenschaftler und Publizist in Berlin.
Schlagwörter: Die Stunde der toten Augen, Harry Thürk, Kai Köhler, Kriegsroman