von Marcus Crome
Es ist schon eine seltsame Versuchsanordnung, in die uns Brecht und Eisler da hineinwerfen: Vier junge Agitatoren wurden von Moskau nach China geschickt, um Propaganda zu treiben im Interesse der kommunistischen Partei. Unterwegs, an der Grenze, nehmen sie noch einen fünften Genossen mit, der ihnen helfen soll, die chinesischen Arbeiter und Bauern von der kommunistischen Sache zu überzeugen. Im Laufe der Arbeit „verfällt“ der junge Genosse aber immer mehr dem Mitleid mit den Unterdrückten und Geknechteten, so dass er die Aktion gefährdet und nicht mehr im Sinne der „Lehren der Klassiker und Propagandisten“ agiert, sondern den Arbeitern „gleich und sofort“ helfen will. Am Ende entfernt er noch die Maske, die ihn unkenntlich machen sollte, so dass er „kenntlich“ wird und alle fünf fliehen müssen. Damit die anderen vier unbehelligt weitermachen können, müssen sie den jungen Genossen erschießen und in eine Kalkgrube werfen, „denn der Kalk verbrennt ihn“. Sie fragten ihn noch: „…willst du es allein tun? – Er aber sagte: Helft mir. […] Dann erschossen wir ihn und / Warfen ihn hinab in die Kalkgrube. / Und als der Kalk ihn verschlungen hatte / Kehrten wir zurück an unsere Arbeit.“ Und nun müssen sie sich vor dem Kontrollchor, einer Art Parteigericht, verantworten.
Seit 19 Jahren beschäftige ich mich mit diesem Stück. 1997 am Berliner Ensemble leitete ich die Choreinstudierung [Versprecher als Maßnahme, Das Blättchen 01/1999] und dirigierte nach der Premiere auch Vorstellungen. 2008 an der Volksbühne (Inszenierung Frank Castorf) hatte ich die Choreinstudierung und musikalische Leitung inne. Danach kamen Barbara Nicolier und Fabiane Kemmann auf mich zu, mit der Idee, die Uraufführungsversion von 1930 mit zirka 300 Chorsängern aufzuführen. Im Juni 2014 führten wir in der Aula der Berliner Weinmeisterschule einen Prototypen mit zirka 35 Chorsängern, Klavier und Schülern der Schule als Darsteller auf. Am 8. April 2016 endlich kam es nun zur denkwürdigen Wiederherstellung mit einem großen Chor, Orchester, Sängerin und Darstellern. Nun – nicht in der Alten Philharmonie, dem Uraufführungsort, die 1945 zerbombt wurde, sondern im heutigen Kammermusiksaal der Philharmonie in Berlin. Auch haben wir es nicht ganz geschafft, es waren „nur“ zirka 260 Chorsänger. Aber trotzdem haben einige Kritiker der Aufführung bemängelt, dass der Saal für diese Menge an Sängern zu klein sei. Wobei mir viele Zuhörer meinen eigenen Eindruck, den ich am Dirigentenpult hatte, bestätigten, dass es klanglich trotz der Menge der Sänger zu keiner Beeinträchtigung kam.
Was mich an diesem Stück nie losließ, war immer die Musik. Und da muss ich wieder daran erinnern, dass Brecht und Eisler dieses Stück in einer mehrmonatigen Schaffensperiode fast täglich einige Stunden zusammen erarbeiteten. Das heißt: Der Text ist nicht ohne Eisler entstanden und die Musik nicht ohne Brecht. Also die ganzen Bachschen und Händelschen Choral-/Chorzitate, das Arbeiterkampflied, das Chanson, die tänzerischen a-cappella-Chöre und so weiter sind mit der Billigung und dem Wissen von Brecht in dieser Partitur. Dazu kommt, dass sie fast zur selben Zeit an der Dramatisierung (mit der Musik von Eisler) der Gorkischen „Mutter“ arbeiteten. Dieses Stück und diese Partitur allerdings sind an ein ganz anderes (bürgerliches) Publikum gerichtet. Während bei der Uraufführung der „Maßnahme“ mehrere große Arbeiterchöre beteiligt waren, die damals allerdings alle in der Oratorientradition standen, so dass Händel, Bach, Mozart, selbst Beethoven oder Brahms für Arbeiter (heute würde man sagen: musikalische Laien) völlig vertraute Musiziersprachen waren.
Laut Brecht ist „Die Maßnahme“ auch eher zur „Belehrung der Aufführenden“ gedacht, als zur Unterhaltung eines Publikums. Deshalb meine Bezeichnung der „Versuchsanordnung“: Ich glaube inzwischen, dass es Brecht und Eisler nicht auf ein Stück angelegt haben, welches eine letzt-end-gültige Wahrheit oder richtige Sicht auf die Welt und die politische Situation der Zeit geben sollte. Sondern, dass sie es (vor allem für die Aufführenden) zur Diskussion gestellt haben. Sie stellen die Handelnden und den Chor in eine Situation, die bis zum tödlichen Extrem durchdekliniert wird. Und dann sollten sich alle Dabeiseienden (Aufführende und Publikum) hinterher dazu verhalten. Bei der Uraufführung im Dezember 1930 zum Beispiel fand einige Tage nach der Aufführung in der Alten Philharmonie eine Diskussion in der Aula eben jener (heutigen) Weinmeisterschule statt. Wir wissen leider nicht, was und wie damals diskutiert wurde. Aber wir wissen, dass diese Diskussion sehr stark besucht war.
In der linken (west-)deutschen Diskussion der (vor allem) 1970er Jahre war die „Maßnahme“ ein oft zitierter und starker Pol, an dem sich die Geister sehr rieben. Wenn man die damaligen Äußerungen und Schriften liest: Sie wurde bejubelt und verteufelt, in den Himmel gehoben oder in den Hades verfrachtet. Aber ich denke, diese ganzen damaligen Diskussionen sind hinfällig, da alle nichts von der Musik wussten, die ein integraler, ja notwendiger Kontrapunkt, Kommentar, Bestandteil dieses Textes, Stückes ist. Die erste (erlaubte) Aufführung mit der Musik war schließlich erst 1997, Aufnahmen gab es nicht, und an die Partitur kam man vorher im Grunde nicht heran.
Und so sind wir während der Zeit, als wir diese Aufführung vorbereiteten, oft in Chören gewesen, die Interesse bekundet hatten, mitzumachen. Es gab immer Diskussionen, ob man dieses Stück heute aufführen kann oder nicht. Was sagt uns dieses Stück heute? Wie sollen, können wir uns dazu verhalten? Diese und viele andere Fragen wurden immer wieder diskutiert. Am interessantesten war für mich die Diskussion in einem Chor, bei der nacheinander zwei Sänger aufstanden und sich so äußerten: „Ich werde bei dieser Aufführung nicht mitsingen, denn dieses Stück ist stalinistisch!“ – „Ich kann dabei nicht mitwirken, denn dieses Stück ist konterrevolutionär!“ (Vielleicht hat dieser das Stück sehr viel besser verstanden, als viele andere?)
Nochmals Brecht in einem Brief im April 1956: „‚Die Maßnahme‘ ist nicht für Zuschauer geschrieben worden, sondern nur für die Belehrung der Aufführenden. Aufführungen vor Publikum rufen erfahrungsgemäß nichts als moralische Affekte für gewöhnlich minderer Art beim Publikum hervor. Ich gebe daher das Stück seit langem nicht für Aufführungen frei.“ Aber nichtsdestotrotz spricht er fast zur selben Zeit in einem Gespräch mit Manfred Wekwerth von der „Maßnahme“ als dem „Theater der Zukunft“.
Schlagwörter: Bertolt Brecht, Die Maßnahme, Hanns Eisler, Marcus Crome, Theater der Zukunft