19. Jahrgang | Nummer 3 | 1. Februar 2016

Scharfschützenmythos

von Lutz Unterseher

Leroy Jethro Gibbs ist ein US-Amerikaner in den besten Jahren: fit wie ein Turnschuh und mit einem ziemlich peinlichen Militärhaarschnitt behaftet. Sein Name ist bedeutungsschwanger. „Gibbs“ steht für gewöhnlichste Normalität. „Jethro“ klingt biblisch und hat einen hinterwäldnerischen Bezug. „Leroy“ schließlich, ein „nigger name“, deutet an, dass die Eltern unseres Kandidaten gute Beziehungen zur afro-american community hatten und dass wohl auch der Sohn kein Rassist ist.
Gibbs ist die Zentralfigur einer Fernsehserie, die sich seit über zehn Jahren größter Popularität beiderseits des Atlantiks erfreut. Er ist der allgegenwärtige „Boss“ eines Teams des Naval Criminal Investigative Service (NCIS), einer für die Angehörigen der amerikanischen Flotte und des Marine Corps zuständigen Kriminalpolizei.
Der Schauspieler Mark Harmon präsentiert Gibbs als ganz tollen Hecht – mit einer Merkmalskombination, die sich in der Realität kaum wiederfinden ließe: sehr tapfer, der Mission und den ihm Unterstellten bis zur Selbstaufgabe verpflichtet, mit einem Gerechtigkeitsgefühl, das erlaubt, Gesetze zu missachten, und einem untrüglichen Instinkt für die richtige Fährte bei der Jagd nach den Bösewichten.
Mit übergeordneten Autoritäten verkehrt Gibbs auf Augenhöhe (um einen Lieblingsausdruck unserer Sozialdemokraten zu bemühen). Er biedert sich nicht an. Und gegenüber den Mitgliedern seines Teams verhält er sich auf augenzwinkernde Weise autoritär – kann allerdings auch Aufgaben delegieren, ohne hineinzureden, und, wenn erforderlich, zuhören, ohne ständig zu unterbrechen (in klarem Kontrast zu Michel Friedmann, der das beliebige Unterbrechen zum gängigen Sozialverhalten gemacht hat).
Für Gibbs ist die Welt der Computer etwas Fremdes geblieben. Doch kann er Computerjunkies die richtigen Fragen stellen und die Resultate ihrer Analysen interpretieren.
Er isst gerne Steaks, die er mit seinem Kampfmesser mundgerecht zuschneidet, und trinkt außer Unmengen von Kaffee (stark, schwarz) am liebsten Bourbon – aus Marmeladegläsern. Beim Kauen hat er Schwierigkeiten, den Mund geschlossen zu halten. Mit Letzterem liegt er durchaus im Trend: befreien sich doch auch hierzulande viele Mittelschichtler vom Benimmkodex früherer Generationen. Fressen wie die Schweine (verzeiht liebste aller Mitsäuger!) als Akt der Emanzipation.
Gibbs hat Humor, kann fröhlich sein. Und doch ist er von leidvoller Erfahrung gezeichnet. Tochter und erste Ehefrau, die er über alles liebte, wurden ihm durch Mörderhand genommen. Weitere Ehen konnten nur vorübergehend Trost bringen. Doch bleibt er im Fadenkreuz der schärfsten und attraktivsten – zumeist reiferen – Damen.
Wir sehen also eine Person, die sehr menschlich und der nichts Menschliches fremd ist. Sie erscheint auf eine sympathische Weise oldfashioned und zugleich doch den Herausforderungen unserer Zeit gewachsen: großartig, honorig, leistungsfähig – mit einem kräftigen Schuss Jedermann.
Über solcherlei Lobhudelei sollte freilich nicht vergessen werden, dass es ein Merkmal gibt, welches Gibbs mehr als alles andere charakterisiert. Er ist Scharfschütze. Diese Befähigung liegt ihm in der Seele. Als junger Mann, während seines Dienstes im US Marine Corps, konnte er das ihm eigene Talent durch Übung voll entfalten und im Einsatz ausleben. Und auch später zieht er Nutzen daraus: zur Rächung seiner Lieben sowie gelegentlich im Dienst des CIS.
Damit wird um ein Übriges signalisiert, dass Gibbs „alte Schule“ ist: In einer Welt einander ins Wort fallender Quasselstrippen kann er schweigend stundenlang auf der Lauer liegen. Zugleich bedeutet dies aber auch, dass wir es mit einem „Killer aus dem Hinterhalt“ zu tun haben.
Die Verbindung von honoriger, facettenreicher Persönlichkeit, von menschlicher Wärme, mit der Rolle des eiskalten Killers aus der Distanz findet sich auch in einer anderen populären Fernsehproduktion: nämlich in der Gestalt eines FBI-Agenten mit common sense in der Serie „Bones“, in der es um forensische Analysen zum Zweck der Verbrechensbekämpfung geht.
Diese sympathischen Killer bedienen sich antiquiert erscheinender Waffen. In einer Zeit, in der das Gros der Militärs von Robotern und ferngelenkten oder gar autonom zielsuchenden Präzisionsgeschossen träumt, müssen sie noch alles selber tun. Sie haben Repetiergewehre, bei denen für jeden Schuss ein Nachlademechanismus per Hand bedient werden muss. Automatisches Nachladen könnte die Treffgenauigkeit beeinträchtigen.
Das Format und die ballistische Leistung dieser Repetierer entspricht im Wesentlichen dem Standard der Infanteriegewehre von 1910 oder auch dem jener Waffen, mit denen die ScharfschützInnen der Roten Armee im Großen Vaterländischen Krieg mit respektablem Erfolg Löcher vom Kaliber 7,62 mm in die Figuren deutscher Landser zu stanzen suchten.
Die Tätigkeit der Scharfschützen hat etwas Handwerkliches: Sie ist anspruchsvoll und selbst bei Talent schwer zu erlernen – wie etwa die eines Glockengießers. Und wie die des Glockengießers auch erscheint sie ehrbar, beinahe als Ausübung eines alten Brauches, jedenfalls wenn ein Leroy Jethro Gibbs am Drücker ist.
In früheren Zeiten gab es in der amerikanischen Medienkultur eine solch vorbehaltlos positive Vermenschlichung des Scharfschützen nicht. Snipers waren entweder bloße Instrumente im Auftrag höherer Autorität, in ihrer Persönlichkeit kaum präsent. Oder aber sie erschienen als psychisch prekäre Killer. Und wenn das Publikum Sympathien für diese entwickelte, wurde am Ende zumeist doch deren problematische Natur angesprochen.
Die Wende hin zum positiven Bild des Scharfschützen kam wohl im Zusammenhang mit den US-Militärinterventionen der vergangenen Dekade, bei denen es um die Bekämpfung von „Terroristen“ und „Aufständischen“ im Rahmen infanteristischer Kleinkriegsszenarien ging.
Diese Wende war freilich mit der Verknüpfung von Humanität und Heckenschützentum à la Gibbs noch nicht vollständig vollzogen. 2014 präsentierte Clint Eastwood einen Film, der unter dem Titel „American Sniper“ den Texaner Chris Kyle porträtierte, der als Soldat im Irak nach offiziellen Angaben 160 Menschen das Leben genommen hatte: Männern, Frauen und Kindern, die selbstverständlich alle als Bedrohung wahrgenommen worden waren.
Eastwood hatte ein durchaus kritisches Porträt des Mannes beabsichtigt, der als herausragender Sniper zum Champion ausgerufen worden war. Dies wurde ihm allerdings nur von recht wenigen Betrachtern abgenommen. Von linksliberalen Stimmen in den USA wurde dem Regisseur zudem vorgeworfen, dass er den Krieg im Irak in seinen Ursachen falsch darstelle und indirekt Propaganda für die Republikaner betreibe.
Von einer Mehrheit des Publikums in den USA, wo sich der Film schnell als Kassenschläger entpuppte, wurde hingegen zumeist nur Positives gesehen. Vor allem die Hauptfigur kassierte jubelnden Beifall.
Anders als der fiktive Gibbs war der reale Kyle kein sonderlich sympathischer Mensch: ein „hasserfüllter Killer“ (The Guardian) und nichts als ein Killer, Angeber und darauf bedacht, aus seinem Ruhm Profit zu schlagen.
Während die menschlichen Qualitäten des einen auch sein Schießtalent in einem warmen Licht erscheinen lassen, ist es bei dem anderen genau umgekehrt: „Wer so viele Feinde umbringt, der muss einfach ein guter Mensch sein.“ Dieses Gefühl ist vor allem in Texas, der Heimat Kyles, weit verbreitet. In der Konsequenz hat der Gouverneur dieses Staates den Todestag des Rekordschützen zum offiziellen Gedenktag ausrufen lassen.
Was ist das für eine Gesellschaft, in der von einer hohen Tötungsleistung – im Dienste des eigenen Landes, versteht sich – auf einen guten Charakter geschlossen wird? Da müssen unsere Kulturphilosophen ran. Erklärt das mal!
Chris Kyle starb übrigens artgerecht. Er, der Veteran, wurde 2013 von einem anderen, angeblich psychisch labilen Ex-Soldaten erschossen – auf einem Schießstand.