von Julius Berrien
Der russische Philosoph Alexander Dugin liebt die Provokation. In einem Fernseh-Interview im Jahr 2013 vertrat er die Ansicht, Russland solle Europa erobern, um es vor Schwulenehe, Femen und Pussycat Riot zu schützen. Später sagte Dugin, dies sei „nur ein Scherz“ gewesen.
Während der Ukraine-Krise 2014 forderte er, die prowestlichen Ukrainer müssten „getötet, getötet und getötet“ werden und verlor deswegen seine Professur an der Lomonossow-Universität in Moskau.
Mit scharfen Angriffen auf den westlichen Liberalismus, Gender Mainstreaming und den Führungsanspruch der USA avancierte Dugin, der schon als Neuer Rasputin und Slavoj Žižek von rechts bezeichnet wurde, in ganz Europa zur Kultfigur von Identitären und Rechtsextremen.
In den Neunziger Jahren gründete Dugin die Nationalbolschewistische Partei Russlands, wandte sich dann jedoch dem Neo-Eurasismus zu und wurde zu dessen mächtigstem Wortführer.
Der Eurasismus entstand nach der Oktoberrevolution durch russische Exilanten, die der Bewegung der Weißen nahestanden. Der Eurasismus postuliert einen fundamentalen Gegensatz zwischen der Kontinentalmacht Russland und den angelsächsisch geprägten westlichen Küstenländern. Nach dem Zerfall der Sowjetunion erlebte er als Neo-Eurasismus eine Renaissance.
Wieviel Einfluss Alexander Dugin tatsächlich in Russland ausübt, ist umstritten. Jedenfalls dient er dem Duma-Vorsitzenden Sergej Naryschkin als Berater. Auch Sergei Glasjew, der für die Entwicklung der eurasischen Wirtschaftsunion verantwortlich ist, soll ein Anhänger des Neo-Eurasismus sein. Zuletzt war Dugin häufig Gast im russischen Fernsehen.
In zwei zentralen Werken legte Dugin seine Weltanschauung dar und entwarf das Konzept einer multipolaren Weltordnung als Alternative zur Dominanz des Westens: Die Vierte Politische Theorie (2013 auf Deutsch) und Konflikte der Zukunft. Die Rückkehr der Geopolitik (2014). Dabei verwendet er die Begriffe Vierte Politische Theorie und Eurasische Idee weitgehend synonym. Das Kernstück seiner Lehre bildet die Kritik am Absolutheitsanspruch westlicher Werte wie Demokratie, Menschenrechte, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Diese dienten dem chauvinistischen Westen lediglich dazu, seine Macht auszuweiten.
Hierbei macht sich Dugin Argumentationsmuster des Postmodernismus und Feminismus(!) zu eigen. Jede Kultur habe ihre eigenen Wahrheiten und Deutungsmuster, die gleichberechtigt neben den Wahrheiten anderer Kulturen stünden. In der gleichen Weise, in der sich Feministinnen dagegen wehrten, dass Männer ihnen ein einseitiges Frauenbild überstülpten, müssten die Völker der Welt sich gegen den westlichen Universalismus verteidigen.
Dugins Alternativkonzept gegen Globalisierung, die er mit Amerikanisierung und Verwestlichung gleichsetzt, ist eine multipolare Weltordnung, in der Zivilisationen ihren jeweils eigenen Großraum kontrollieren. Unter einer Zivilisation versteht Dugin soviel wie einen Kulturraum. Er unterscheidet zwischen der westlichen, orthodoxen (eurasischen), islamischen, indischen, chinesischen (konfuzianischen), japanischen, lateinamerikanischen, buddhistischen und afrikanischen Zivilisation.
In Zukunft würden diese Zivilisationen die einzelnen Nationalstaaten ablösen. Kleinere Staaten würden dann in den Zivilisationen aufgehen.
Mit diesem Konzept lehnt sich Dugin an Carl Schmitt an, der Mitte der dreißiger Jahre zum Kronjurist der Nationalsozialisten avancierte und sein Modell der Großraumordnung unter Interventionsverbot für raumfremde Mächte als deutsches Gegenstück zur Monroe-Doktrin etablieren wollte.
Dugin sieht seine Vierte Politische Theorie, die er kurz und knackig 4PT abkürzt, in der Nachfolge der drei großen Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts: Kommunismus, Faschismus und Liberalismus. Alle drei Ideologien seien gescheitert. Der Liberalismus habe am längsten durchgehalten, zerstöre sich jetzt aber selbst, da er sich zum Post-Liberalismus entwickle. Im Post-Liberalismus verfolge der Mensch die Befreiung von sich selbst. Der Mensch stelle zunehmend seine Volkszugehörigkeit und die eigene sexuelle Identität infrage. Durch das Abstreifen jeder kollektiven Identität sei der Mensch aber kein Mensch mehr, sondern nur noch Post-Mensch. Dies führe zu einer Post-Gesellschaft, geprägt von Vereinzelung, Auflösung sozialer Bande und Entfremdung des Menschen von sich selbst.
Zentral für die Vierte Theorie ist das Konzept des „Daseins“ von Martin Heidegger.
Heidegger verstand unter Dasein ein Seiendes, welches sich seiner Geworfenheit in die Welt bewusst ist. Man könnte es auch authentische Existenz nennen. Das technische Denken der Moderne entfremde aber das Dasein von sich selbst und habe als „Gestell“ vom Menschen Besitz ergriffen. Mit dem Abgleiten der Abendländischen Philosophie in den Technozentrismus ginge der Kontakt des Menschen zu den Wurzeln seiner wahren Existenz verloren.
Dugin erklärt, nur durch den Zusammenschluss mit anderen Ländern der gleichen Zivilisation und den Kampf gegen westliche Einflussnahme könne das Dasein geschützt werden.
Der Leser wartet allerdings vergebens auf einen klaren Entwurf dessen, was denn nun eigentlich die Vierte Politische Theorie sein soll. Dugin will jedoch gar keinen fertigen Entwurf liefern. Die 4PT solle nicht als Dogma verstanden werden, sondern als „Einladung“ und „Aufforderung“, über Alternativen zum Liberalismus nachzudenken. Am Ende, hofft Dugin, werde es gelingen, verschiedene antiliberale Positionen zu einer Superideologie zu verschmelzen, die in der Lage ist, den Liberalismus herauszufordern. Dabei träumt er von einer Querfront aus Rechten, Linken und den Religionen, um das Dasein der Völker zu bewahren und die Ausbreitung westlicher Werte zu stoppen.
Ein markantes Detail ist seine Vision von Geschlechteridentität. Der überzeugte Antifeminist und Gegner der Schwulenbewegung sieht europäische Maskulinitäten, die den Mann als dominant, rational, mit weißer Hautfarbe und Privatvermögen konstruieren, als Ausgeburt des Liberalismus. Stattdessen möchte Dugin diejenigen Elemente auffangen, die von der Moderne ausgestoßen wurden. Sein Ideal ist das Androgyne, welches sich noch in der ursprünglichen Einheit des Weiblichen und des Männlichen befindet.
So gerät die 4PT zu einem schillernden Cocktail aus Postmodernismus, Tantra, Globalisierungskritik und Technologie-Skepsis und wirkt in ihrer Verschmelzung aus konservativer Revolution mit antiamerikanischer Befreiungstheologie so bizarr, als hätte Ernst Jünger Che Guevara auf LSD gelesen.
Es entsteht unweigerlich der Verdacht, Dugin wolle nur die angestaubte Ideologie des Eurasismus durch Verbindung mit dem Postmodernismus aufpeppen und die Dominanz Russlands über seine kleinen Nachbarn in einem neuen Kontext rechtfertigen.
Dass Dugin kleine Staaten in Großräumen auflösen möchte, obwohl dies das individuelle Dasein kleinerer Völker in weit stärkerem Maße gefährden würde als die derzeitige Globalisierung, bildet eine Schwachstelle seiner Theorie.
Es ließe sich ferner fragen, warum eine Philosophie, die das authentische Dasein in den Mittelpunkt stellt, Homosexuellen gerade nicht erlauben will, ihr Dasein zu leben und warum Dugin sich zur Analyse der Weltpolitik des Feminismus bedient, wenn er diesen auf der Ebene des Individuums verteufelt.
Dennoch treffen Alexander Dugins Analysen in vielen Punkten auf alarmierende Weise zu. Etwa wenn er vom voreiligen Triumpf der Moderne spricht. In Konflikte der Zukunft beschreibt er, wie sich unter der dünnen Schicht der Modernisierung von Staaten und Gesellschaften noch immer archaische Muster des Denkens und Fühlens verbergen, die eher der Antike entsprechen. Die Modernisierung erfasst zumeist erst die Oberschicht eines Landes, während die unteren Klassen traditionalistisch bleiben. Beim Übergang von der Moderne zur Postmoderne bricht die Prämoderne wieder hervor. Oder, wie Dugin es ausdrückt: „Bei ihren Bestrebungen, einen entscheidenden Schritt über die Grenzen der Moderne und der Neuzeit hinaus zu unternehmen, entdeckt die globalistische Welt jäh, dass die Moderne in vielen Gebieten der Welt keineswegs fest im Sattel sitzt und die Neuzeit dort noch gar nicht begonnen hat. Dies legt die Vermutung nahe, dass die Moderne, so wie wir Europäer sie für gewöhnlich verstehen, in diesen nichtwestlichen Gesellschaften vielleicht gar nicht möglich ist und sich folglich auch niemals realisieren wird.“
Viele Entwicklungen trafen die westliche Welt wie ein Schlag. Während Francis Fukuyama 1992 noch das Ende der Geschichte verkündet hatte, erlebte der Westen das Wiederaufflammen von Piraterie, Bürgerkriegsbarbarei und Steinzeit-Islamismus als unerwartete Schocks. Wir sehen gegenwärtig, wie der Islamische Staat (IS) mit Methoden der Postmoderne (Informationstechnologie, soziale Netzwerke) eine archaische Gesellschaftsutopie verbreitet. Unser Denken in Kategorien der Moderne (wie linearer Fortschritt, Wachstum und Synchronizität der Kulturen) kann diese Entwicklung nur unzureichend erklären.
Nun ist Alexander Dugin zwar nicht der erste, der feststellt, dass in jeder Kultur die Zeit unterschiedlich schnell verläuft und Entwicklungen in jedem Kulturkreis nach ihren ganz eigenen Gesetzen ablaufen, doch er leistet durchaus einen Beitrag zur aktuellen Gegenwarts- und Zukunftsdiskussion, indem er diese Ideen popularisiert und zu einem Eckpfeiler jeder Außenpolitik machen möchte.
Es wäre interessant zu lesen, wie Dugin sich in einem postamerikanischen Zeitalter einen gelungenen Dialog zwischen den Zivilisationen vorstellt, insbesondere wenn diese geistig und materiell in unterschiedlichen Zeitaltern leben.
Schlagwörter: Alexander Dugin, Eurasismus, Julius Berrien