von Petra Weckel
Werner Herzog, dessen Videoarbeit „Hearsay of the Soul“ gerade in Köln im Rahmen der sehenswerten Ausstellung „Werner Herzog & Hercules Segers – Seelenlandschaften“ (noch bis zum 12. Juli) zu sehen ist, schrieb einmal: „Wenn ich Ihnen die Maler nennen soll, die mich beeinflusst haben, erwähne ich Grünewald, Caspar David Friedrich und, über allen anderen, Bosch und Bruegel.“
Ersetzt man nur den C.D. Friedrich durch Jörg Ratgeb und Alfred Kubin, so haben wir den Reigen jener Maler und Grafiker parat, die Wilhelm Fraenger sein Leben lang begleitet haben. Seghers, Bruegel, Grünewald, Bosch, Ratgeb, jedem hat er eine Monographie gewidmet. Und wenn Fraenger sein 1922 erschienenes, noch heute faszinierendes Buch „Die Radierungen des Hercules Seghers. Ein physiognomischer Versuch“, mit dem Satz beendet: „Das ist mein Bild von Hercules Seghers, dem Verwitterungsseligen, dem Bruder der Ruinen, dem Freund des Verfalls“, dann hat er damit schon damals genau jene Spur entdeckt, der Herzog noch heute folgt.
Dass Fraenger, dessen 125. Geburtstag wir am 5. Juni begehen, sich gerade mit Seghers und weniger mit Rembrandt, seinem viel berühmteren Nachfolger beschäftigt, zeigt exemplarisch sein Interesse jenseits der von ihm verschmähten „akademischen“ Kunstgeschichte.
Während seines Studiums in Heidelberg sucht er ganz konkrete Bezugspunkte zur Kunst. Der Heidelberger Kunstverein mit seinen Ausstellungen zur zeitgenössischen Kunst zieht ihn an und er beginnt, journalistisch über diese Ausstellungen zu berichten (1912-1917). In dieser Zeit knüpft er Bekanntschaften mit Malern wie Max Zachmann (1892-1917), Ernst Kreidolf (1863-1956) und Alfred Kubin (1877-1959). Er führt oft selbst durch die Ausstellungen des Kunstvereins und versucht, dem Publikum die gesellschaftliche Bedeutung der neuen Kunstströmungen zu vermitteln. Dabei sucht er abseits der allgemein goutierten Kunst das ganz Besondere ans Tageslicht zu fördern. An den Künstler Ernst Kreidolf schreibt er 1917: „Ich suche immer zuerst in Winkeln und Ecken abgelegener Kabinette in solchen Ausstellungen, da findet man dann ab und zu in dürftigem Licht gerade das Bild, das einem hundert andere aufwiegt.“
Mit einer derart geprägten Spürnase wendet er sich dem kunsthistorischen Untergrund zu. Insbesondere dem Andenken an den Maler Max Zachmann, der 1917 im Krieg gefallen ist, widmet er eine Totenfeier für die gefallenen Studenten am 23.02.1919 in der Heidelberger Heiliggeistkirche. Hier verliest Fraenger in monotonem Repetitiv die endlose Reihe der Namen der gefallenen Kommilitonen. Dies ist sozusagen der Auftakt für die Gründung eines Kreises von Gleichgesinnten, den Fraenger „Die Gemeinschaft“ nennt, einen „Zusammenschluss aller geistig Gerichteten in Stadt und Universität zu einem freien Arbeitsbunde, dessen Ziel es ist, durch Vorträge, Besprechungsabende und Ausstellungen die Sinndeutung der Gegenwart im ganzen Umkreis der Kulturerscheinungen zu bieten.“
Damit installiert er eine Art Gegenuniversität, die junge Studenten wie Carl Zuckmayer, Carlo Mierendorf und Theo Haubach anzog. Zuckmayer erinnert sich an: „[…] eine Art von Verschwörung gegen den herkömmlichen Leisetritt und Mühlengang der Universität. Die Brisanz modernen Kunstschaffens, neuer, provokativer Literatur, einer kühneren Forschung und geistigen Entrümpelung sollte den Akademismus des altmodischen Professorentrotts in die Luft sprengen und eine unserer Zeit und unserm Lebensgefühl gemäße ‚pädagogische Provinz’ von gesellschaftskritischem und sozialrevolutionärem Elan an ihre Stelle setzen […] Wir wurden Publikum und Mitwirkende, Schüler und Assistenten seiner Veranstaltungen, die von Lichtbildervorträgen und Privatseminaren bis zu Dichterlesungen, Aufführungen alter und neuer Stücke, auch selbst verfasster oder zusammengestellter Szenenfolgen, eine vielschichtige Skala umfassten.“
Hier begegnet ihm auch Heinrich George (1893-1946), und es entbrennt eine kongeniale Freundschaft. Ihr gemeinsames Thema ist die Sprache: Die pointierte, lebensvolle Sprache des Einen, des Komödianten, und die aus geistigen Tiefen schöpfende, fundamentale Sprache des Anderen, des Intellektuellen. Es ist kein Wunder, dass ihr erstes gemeinsames Projekt, nachdem sie sich in der Frankfurter Galerie Peter Zinglers das erste Mal begegnet sind, ein Theaterprojekt ist: am 11. April 1920 werden in einer Matinee im Neuen Theater Frankfurt Kokoschkas Dramen „Mörder, Hoffnung der Frauen“ und „Hiob“ aufgeführt, die einen Proteststurm inklusive Schlägerei mit dem Frankfurter Publikum auslösen.
Fraenger lässt sich durch derartige Skandale keineswegs abschrecken. Wenig später, am 23. Juli 1920 veranstaltet er mit der „Gemeinschaft“ eine weitere Oskar-Kokoschka-Feier, bei der „Die träumenden Knaben“ und „Der brennende Dornbusch“ aufgeführt werden. Unausweichlich werden George und Fraenger ein Freundespaar, das sich gegenseitig in seinen künstlerischen Kapriolen inspiriert und befeuert. Als George 1938 Intendant des Schiller-Theaters wird, wird Fraenger, der 1933 als Direktor der Mannheimer Schlossbibliothek von den Nazis gefeuert worden war, sein engster Berater und erhält mit seiner Protektion wieder eine feste Stelle mit geregelten Einkünften. Er fungiert dort als Dramaturg, als künstlerischer Berater und als Bibliothekar.
Fraengers Einfluss auf die Veranstaltungen, insbesondere die vielfältigen Matineen des Theaters ist groß. Und darüber hinaus kann er im künstlerischen Milieu des Theaters auch einigen jüdischen und politisch verfolgten Kollegen unter die Arme greifen. Darunter der Verleger Otto Dickschat und die Grafiker Karl Rössing und Günther Strupp. Rössing berichtet Alfred Kubin brieflich im Februar 1939: „Ich komme hier viel mit Wilhelm Fraenger zusammen, er ist ein genialer Mensch, von ungewöhnlicher Ausdruckskraft und einem sprachlichen und gedanklichen Phantasievermögen seltenster Art. Nur schade, dass man dann, wenn er seine genialen Touren bekommt (zu später Nachtstunde), zu müde ist, um die Wache der Nacht mit ihm beziehen zu können.“
Nach dem Krieg wird Fraenger zum stellvertretenden Direktor des Instituts für Volkskunde an der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin ernannt. Hier kann er an viele Publikationspläne seiner Heidelberger Zeit wieder anknüpfen. Nun hat er den wissenschaftlichen Apparat zur Hand, seine Studien über die rätselhaftesten aller Maler, über Hieronymus Bosch, Jörg Ratgeb und andere weiterzuführen und seinen Mitarbeitern wie Ingeborg Weber-Kellermann oder dem Fotografen Wolf Lücking wichtige und nachhaltige Impulse mitzugeben.
Am 19. Februar 1964 stirbt Fraenger und wird auf dem Potsdamer Goethe-Friedhof direkt an der Friedhofsmauer beigesetzt. Ein großer Feldstein ziert sein Grab, in dem später auch seine Frau Gustel und ihre Ziehtochter Ingeborg Baier-Fraenger ihre letzte Ruhe finden.
Sie alle leben weiter in der Erinnerung. Nicht nur durch ihre Werke. Ihre Persönlichkeiten wirken fort – bis heute. In seinem Potsdamer Haus wird bis heute mit der Wilhelm-Fraenger-Gesellschaft über Fraenger und seine Lieblingsthemen gesprochen und gestritten. Der Nachlass Fraengers, der sich viele Jahre in diesem Hause befand, liegt inzwischen zur wissenschaftlichen Auswertung im Brandenburgischen Landeshauptarchiv.
Fast wie sein Lebensmotto klingt das Schillerzitat aus der „Huldigung der Künste“, das Fraenger im Herbst 1939 in einem Programmheft zu „Don Carlos“ am Schillertheater abdruckte:
„Mich hält kein Band, mich fesselt keine Schranke,
Frei schwing ich mich durch alle Räume fort.
Mein unermesslich Reich ist der Gedanke,
Und mein geflügelt Werkzeug ist das Wort.“
Dr. Petra Weckel ist Zeithistorikerin, Politologin und Kunsthistorikerin und seit vielen Jahren zweite Vorsitzende der Wilhelm-Fraenger-Gesellschaft. Im Potsdamer Fraenger-Haus begründete sie 1997 den bis heute stattfindenden Fraenger-Salon.
Schlagwörter: Heinrich George, Oskar Kokoschka, Petra Weckel, Wilhelm Fraenger, Wilhelm-Fraenger-Gesellschaft