von Julius Berrien
Die USA sind bekanntlich das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Am 20. April ereignete sich in New York ein Gerichtsbeschluss, wonach Schimpansen künftig als Personen gelten könnten. Die Richterin des Obersten Gerichtshofes, Barbara Jaffe, will offiziell prüfen, ob sich Schimpansen auf das verfassungsmäßige Recht auf Freiheit berufen können.
Der Antrag auf Freilassung aus rechtswidriger Haft war von der Organisation Nonhuman Rights Project im Namen zweier Schimpansen, Leo und Hercules, eingereicht worden. Diese befinden sich zurzeit in Gefangenschaft in einem Versuchslabor an der Stony Brook Universität auf Long Island. Weil nach den Gesetzen des Staates New York nur im Namen einer juristischen Person Antrag auf Haftüberprüfung gestellt werden kann, wird die Zulassung des Antrags durch die Richterin als implizite Anerkennung des Personenstatus von Leo und Hercules gesehen und gefeiert.
Nonhuman Rights Project wird zunächst die Gelegenheit erhalten, Beweise vorzulegen („order to show cause and writ of habeas corpus“), dass es sich bei Leo und Hercules nicht um „Sachen“, sondern um „Personen“ handelt. Die Stony Brook University muss die Gefangenhaltung der Schimpansen vor Gericht rechtfertigen. Sollte der Antrag Erfolg haben, könnten sich Hercules und Leo auf grundlegende Menschenrechte berufen und müssten freigelassen werden. Den Rest ihres Lebens könnten sie dann in Freiheit auf einer Insel in Florida in Gesellschaft 250 weiterer Schimpansen verbringen.
Nonhuman Rights Project selbst warnte jedoch vor zu viel Optimismus: „Der Beschluss bedeutet nicht notwendigerweise, dass das Gericht die beiden Schimpansen Hercules und Leo zu juristischen Personen im Sinne des Artikel 70 des Habeas Corpus-Gesetzes erklärt hat“, gab die Organisation bekannt. „Wir glauben jedoch, dass das Gericht es zumindest für möglich hält, dass die beiden Schimpansen Personen im Sinne des Artikel 70 sind. Das Gericht wird erst nach Anhörung der gegnerischen Partei und nach Auswertung aller Informationen entscheiden.“
Der Fall ist gesellschaftspolitisch und philosophisch brisant, rüttelt er doch an der jahrhundertealten und eifersüchtig gehüteten Unterscheidung zwischen Mensch und Tier. Nachdem bereits Indien in einer Regierungserklärung vom 17. Mai 2013 Delphine zu „nichtmenschlichen Personen“ erklärt hat und 2015 die Bundeskammer von Argentiniens Kassationsgericht in Strafsachen den Orang-Utan „Sandra“ als „nichtmenschliches Wesen“ bezeichnete, „welches Rechte besitzt und diese vor Gericht durchsetzen kann“ (so die Formulierung von Sandras Anwalt Andrés Gil Domínguez), würde die Grenze zwischen Mensch und Tier weiter aufgeweicht.
Die Anerkennung des Tieres als eigene Rechtsperson wäre jedoch weniger revolutionär, als man zunächst annehmen könnte. Bis in das 17. Jahrhundert hinein wurden Tiere in bizarren Tierprozessen wegen Mordes, Erntevernichtung oder Hexerei angeklagt. Die Verfahren endeten häufig mit Schuldspruch und Hinrichtung. Während der Heuschreckenprozesse in Arles im 16. Jahrhundert hatten die angeklagten Heuschrecken sogar einen eigenen Strafverteidiger. Dies sind groteske Beispiele menschlichen Aberglaubens, die in enger Verbindung mit dem Hexenwahn stehen. Doch zeigen sie auch, dass die Rechtssubjektivität von Tieren keineswegs eine Erfindung moderner Tierrechtler ist.
Im 19. Jahrhundert sollte Jeremy Bentham schreiben, die Anzahl der Beine oder die Anzahl der Haare am Körper eines Lebewesens sei ebenso wenig ein zulässiger Grund für rechtliche Diskriminierung, wie die Hautfarbe eines Menschen. Doch meldeten sich stets auch Stimmen, die befürchteten, die Verleihung von Grundrechten an Tiere könne zu einer Aushöhlung der Menschenrechte führen. Der Philosoph und Rabbiner Abraham Kook, einer der Väter des modernen religiösen Zionismus, der ansonsten für sein engagiertes Eintreten für Tierschutz bekannt war, äußerte die Befürchtung, eine völlige Gleichstellung von Menschen und Tieren könnte den Respekt vor menschlichem Leben erodieren.
Hat er recht?
Ich glaube, das Leben eines Menschen wird nicht deswegen einen geringeren Stellenwert besitzen, weil Affen auch Rechte bekommen. Wenn das Person-Sein nicht mehr von biologischer Abstammung oder dem Erfüllen bestimmter kognitiver Normen abhängig gemacht wird, wäre Rassismus oder der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen sogar ein noch wirksamerer Riegel vorgeschoben.
Die Behauptung, die Verleihung von Grundrechten an Tiere würde den Respekt vor dem Menschen verringern, erinnert mich stets an Bertolt Brechts „Das Leben des Galilei“. Das heliozentrische Weltbild war für die Zeitgenossen Galileis eine Provokation, sahen sie es doch als Degradierung des Menschen. Plötzlich stand er nicht mehr im Mittelpunkt des Kosmos, sondern kreiste als nur einer von vielen Sternen um andere Himmelskörper. Der Mensch wurde im wahrsten Sinne des Wortes „marginalisiert“. Brecht lässt in seinem Drama einen „sehr alten Kardinal“ ausrufen: „Ich bin nicht irgendein Wesen auf irgendeinem Gestirnchen, das für kurze Zeit irgendwo kreist […] ich bin im Mittelpunkt, und das Auge des Schöpfers ruht auf mir und auf mir allein.“
Rufen nicht auch die Dogmatiker eines menschlichen Exzeptionalismus: „Ich bin das einzige intelligente Wesen mit Persönlichkeit und unveräußerlichen Rechten, ich und ich allein“? Wie schon zu Zeiten Galileis wird auch heute das Selbstbild des Menschen in narzisstisch kränkender Weise infrage gestellt.
Doch es ergeben sich hieraus auch Entwicklungschancen. In Brechts Drama schafft gerade die kopernikanische Wende die Voraussetzungen für die Emanzipation des Volkes von der Obrigkeit. Galilei schwärmt: „Die alte Zeit ist herum, und es ist eine neue Zeit. Bald wird die Menschheit Bescheid wissen über ihre Wohnstätte, den Himmelskörper, auf dem sie haust. Was in den alten Büchern steht, das genügt ihr nicht mehr. […] Dadurch ist eine Zugluft entstanden, welche sogar den Fürsten und Prälaten die goldbestickten Röcke lüftet, so daß fette und dürre Beine darunter sichtbar werden, Beine wie unsere Beine.“
So könnten auch wir heute davon profitieren, das Person-Sein unserer nichtmenschlichen Verwandten anzuerkennen. Es ergäben sich für uns neue Möglichkeiten, den Regenwald oder die Meere für künftige Generationen zu bewahren, wenn wir im Namen der einheimischen Menschenaffen oder Delphine vor internationalen Gerichtshöfen klagen könnten. Wir könnten lernen, besser im Einklang mit der Natur zu leben, wenn wir uns weniger als Herrscher der Welt, denn als Gleicher unter Gleichen begriffen.
Noch steht der Homo Sapiens als einsame Edeltanne auf exponiertem Hügel und beansprucht eine kosmische Sonderstellung als Urknall-Singularität und Schickeria der Evolution. Doch sein eigenes Rechtsdenken, unter Berücksichtigung von Erkenntnissen aus den Naturwissenschaften, zieht den Vorhang zurück und lässt ihn entdecken, dass er mitten im Wald steht, als Baum unter Bäumen.
Biologie und Verhaltensforschung zeigen uns immer deutlicher, dass eine starre Unterscheidung zwischen Mensch und Tier nicht haltbar ist. Wir müssen nur den Mut aufbringen, hinzusehen. „Lass dein Auge am Rohr“, lässt Brecht Galileo Galilei zu dessen Freund Sagredo sagen, als beide mit einem Fernrohr den Himmel erforschen. „Was du siehst, ist, dass es keinen Unterschied zwischen Himmel und Erde gibt. Heute ist der 10. Januar 1610. Die Menschheit trägt in ihr Journal ein: Himmel abgeschafft.“
Diesen Mut wünsche ich auch Richterin Barbara Jaffe und dem Obersten Gerichtshof von New York.
Julius Berrien ist Student der Rechtswissenschaften und lebt in Berlin.
Schlagwörter: Julius Berrien, Menschenrechte, Nonhuman Rights Project, Tiere