von Lothar Tyb’l
Im gesellschaftlichen Diskurs unseres Landes spielen zwei Phänomene – eines bereits seit 25 Jahren, das andere erst seit dem offenen Ausbruch des Ukraine-Konflikts im vergangenen Jahr – eine besondere Rolle, die mit den Begriffen „Wunder“ und „Besorgnis“ verbunden sind. Als „Wunder“ gilt noch immer das gewaltfreie Geschehen beim Scheitern der DDR, das antisozialistische Theorien generell in Erklärungsnot versetzte. Unter dem Begriff „Besorgnis“ treten seit vergangenem Jahr Beobachtungen und Empfindungen stärker in den Vordergrund, die mit der erneut heraufdämmernden Kriegsgefahr in Europa zusammenhängen.
Zur Beantwortung der in diesem Diskurs aufgeworfenen Probleme können die Leistungen der in der DDR betriebenen Philosophie Wesentliches beitragen. Das gilt in zweifacher Hinsicht.
Zum einen wurde von der DDR-Philosophie der Sozialismus immer als eine Gesellschaft begriffen, deren internationales Prinzip der Friede ist. Nationalismus und Rassismus, Faschismus und Krieg gehörten immer zu den von ihr vehement bekämpften (Un-)Werten. Angesichts der Systemkonfrontation machte sie zudem seit Anfang der 1970er Jahre die philosophische Erforschung des Verhältnisses von Krieg und Frieden zu einem ihrer wichtigen Untersuchungsgegenstände, wenn auch deren Ergebnisse und die ihr gemäße Praxis nicht frei von Fehlern, Irrtümern und Defiziten waren.
Zum anderen hat sie angesichts der Atomkriegsdrohung zu Beginn der achtziger Jahre den komplizierten und widerspruchsvollen Prozess eines grundlegenden, für die Militär- und Sicherheitspolitik folgenschweren Paradigmenwechsel vollzogen, der den Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mittel im Nuklearzeitalter generell in Frage stellte, ein Umbruch, dessen Intentionen mit der im nichtmilitaristischen Denken des Westens entwickelten Konzeption der Sicherheitspartnerschaft in Vielem konform ging.
Den vollzogenen Paradigmenwechsel, der seit der „Wende“ dem Vergessen anheimgestellt oder geleugnet wird, in den gesellschaftlichen Diskurs zurückzuholen, ist ein Hauptanliegen einer 2014 erschienenen Publikation, die von ehemaligen Mitarbeitern des Lehrstuhls für Philosophie an der Militärakademie „Friedrich Engels“ verfasst wurde, wo unter Leitung von Wolfgang Scheler für diesen Paradigmenwechsel Pionierarbeit geleistet worden war, die seit 1990 in der ehrenamtlichen Dresdener Studiengemeinschaft Sicherheitspolitik e. V. (DSS) fortsetzt wurde.
Die mit dieser Publikation angestrebte Aufklärung über die an der Militärakademie der NVA geleistete immense philosophische Arbeit und das dortige geistige Klima sowie deren Neubewertung werden für viele Leser überraschend und bemerkenswert in mehrfacher Hinsicht sein:
Erstens – Die Publikation klärt darüber auf, wie sich in den philosophischen Fragen von Krieg und Frieden eine bedeutsame, aber keineswegs unumstrittene, sondern von politischem Argwohn und massiven Widerständen begleitete Entwicklung, Veränderung und Erneuerung vollzog – und dabei frühere Verengungen und Verzerrungen in bis dato geltenden Lehrmeinungen überwunden werden konnten.
Zweitens – Die Publikation verdeutlicht, dass sich dieser vom Wissenschaftlichen Rat für Philosophie in der DDR unter Vorsitz von Erich Hahn geförderte Umbruch den neuen, international diskutierten Fragen im Atomzeitalter nicht nur nicht verschloss, sondern deren Beantwortung durch eigene beachtenswerte Leistungen förderte.
Drittens – Die Publikation weist nach, dass die Forschung und Lehre in der bedeutendsten Bildungsstätte des DDR-Militärs in Übereinstimmung mit Philosophen und Wissenschaftlern anderer staatlicher und SED-Einrichtungen nicht einer Kriegsideologie, sondern Schritt für Schritt einer modernen Friedensphilosophie galt – medialen Vorwürfen über einen aggressiven Charakter des DDR-Sozialismus und seines Militärs widersprechend.
Viertens – Die Publikation macht verständlich, warum diese Umwälzung im philosophischen Denken zu Krieg und Frieden heute gemeinhin ignoriert oder gar unterschlagen wird – denn sie ist nicht nur etwas Bewahrenswertes aus der Geistesgeschichte der DDR, sondern zugleich ein kritischer Kommentar zur aktuellen Militär- und Sicherheitspolitik der Bundesregierung, die sich in Widerspruch zu wichtigen Stimmen selbst im eigenen Lager setzt, wie der jüngste Appell „Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!“ zeigt.
Fünftens – Die Publikation belegt überzeugend, dass zwei auf den ersten Blick so gegensätzlich erscheinende Begriffspaare wie Militär und Philosophie sowie Militärakademie und Philosophen, nicht nur eine wechselseitig fruchtbare Beziehung eingehen können – sondern gemäß dem Clausewitzschen Vermächtnis in der Dresdener Militärakademie eingegangen sind.
Eine direkt und bewusst hergestellte Verbindung zwischen den im militärpolitischen Machtapparat der DDR geführten Debatten und den Gesprächen, die sich in Kirchenkreisen und in der DDR-Friedensbewegung entwickelten, und zu den Fragen, die in der Bevölkerung besonders zum Krieg der Sowjetunion in Afghanistan schwelten, kam jedoch zu spät zustande. Die für die Mündigkeit der Bevölkerung und die Entwicklung der Philosophie als wissenschaftlicher Disziplin dringend gebotene freie und öffentliche Diskussion gerade der strittigen Probleme wurde durch die herrschende Partei- und Militärdisziplin sowie den Widerstand in Führungsetagen der SED und der NVA begrenzt und machte es zu einem quälenden Prozess, neues Denken durchzusetzen. Ansätze und Ergebnisse des gesellschaftlichen Dialogs für eine veränderte Militärdoktrin und eine demokratische Militärreform in der DDR blieben schließlich durch den forcierten Übergang von der „Wende in der DDR“ zum „Beitritt zur BRD“ weitgehend unwirksam und wurden in der breiten Öffentlichkeit kaum diskutiert. Das Buch zeichnet diese für den „Real-Sozialismus“ typische Atmosphäre und dessen Endphase ungeschminkt und sehr sachlich nach.
Lesern in den alten Bundesländern kann das Buch dienlich sein, da es einen Blick hinter die Mauern der DDR-Militärakademie ermöglicht und jene Friedensdebatten in deren Hörsälen, Seminarräumen und Konferenzen nachvollziehbar macht, die dort Jahre vor und auch während der „Wende“ geführt wurden. Die Abwicklung der Akademie beim „Anschluss“ an die BRD erfolgte mit Vorsatz, auch, weil an einem vergleichbaren militär- und sicherheitspolitischen Umbruch, wie er nicht zuletzt mit der neuen Militärdoktrin der Warschauer Vertragsstaaten im Jahre 1987 eingeleitet worden war, kein Interesse bestand. Im Gegenteil – der Sieg im „Kalten Krieg“ bestärkte die westliche Seite, den notwendigen Paradigmenwechsel in den Fragen von Krieg und Frieden nicht zu vollziehen und bereits gewonnene Ansätze zurückzunehmen.
Die vorliegende Publikation wird den kontroversen Diskussionen unter den Linken über das Für und Wider in den Fragen von Krieg und Frieden nutzen, da sie die Widersprüche in der DDR-Philosophie nicht umgeht und sich nicht nachträglich besserwisserisch gibt, sondern sachliche Überzeugungskraft ausstrahlt. Das ist ein Stil, der zwischen den verschiedenen Strömungen und Fraktionen, Gruppen und Köpfen der Linken noch immer nicht genügend gepflegt wird, die seit ihrer Niederlage in der Systemkonfrontation in erheblichem Maße wieder in alte Gräben zurückgefallen ist.
Alwin Loose / Wolfgang Scheler: Philosophen an der Militärakademie. Der Philosophielehrstuhl an der Militärakademie „Friedrich Engels“. Reminiszensen ehemaliger Mitglieder, DSS-Arbeitspapiere, Heft 109/2014, (Dresdener Studiengemeinschaft Sicherheitspolitik e.V./DSS)“, 348 Seiten, 10,00 Euro.
Schlagwörter: Alwin Loose, Lothar Tyb’l, Militärakademie „Friedrich Engels“, Wolfgang Scheler