von Eduard Fuchs
Der preußische Militarismus hat in seiner Sünden geilsten Blüte den Geist Mehrings zu morden versucht. Es war beim Versuch geblieben. Die deutsche sozialistische Regierung Ebert-Scheidemann-Noske war in ihrer Art erfolgreicher. Sie hat den Leib Mehrings gemordet. Gewiß nicht mit Willen, sondern indirekt. Franz Mehring starb am Tode seiner Freunde Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die auch bei einem wichtigen Kapitel der Marx-Biographie seine von ihm bewunderte Mitarbeiterin gewesen war. Der Alte wollte nicht glauben, daß diese Tat hatte geschehen können. Als die Nachricht von dem bestialischen Meuchelmord an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zu ihm traf, irrte er stundenlang in seinem Zimmer auf und ab. Ständig trieb es ihn umher, solange bis der Greisenkörper erschöpft in den Lehnsessel sank. Aber er sprang immer sofort wieder auf, sobald er sich notdürftig erholt hatte, und von neuem begann er seine ruhelosen Wanderungen. Die Empörung über eines der schamlosesten Verbrechen der Weltgeschichte – so nannte er es –, „daß die größte und kühnste revolutionäre Energie Deutschlands, und der feinste Frauenkopf mit dem genialsten Hirn der Internationale, zwei der herrlichsten Menschen, den mit allen Mitteln arbeitenden Blutorgien einer sogenannten sozialistischen Regierung“ zum Opfer gefallen waren, diese fast unfaßbare Vorstellung rüttelte ununterbrochen an allen Nerven dieses gewaltigen Rebellen. Als ich drei Tage nach dem Morde vor Mehring stand, war ich Zeuge seiner fürchterlichen Empörung. Ich war einst Zeuge gewesen, wie er den aus dem Zuchthaus zurückgekehrten Karl Liebknecht zum erstenmal wiedersah und mit Tränen in den Augen in seine Arme schloß. Ich war später Zeuge gewesen, wie Mehring, vor Freude bebend und immer wieder lachend, die durch die Revolution aus der Schutzhaft befreite Rosa Luxemburg begrüßte; beide sprachen kaum, sie lachten nur wie selige Kinder. „Jetzt lebe ich wieder“, sagte er beidemal nachher zu mir. Nun war ich Zeuge, wie Mehring sich zwang, an die Tatsächlichkeit nicht nur der Ermordung Karl Liebknechts, sondern auch der Rosa Luxemburg zu glauben. Ich hatte ihm sagen müssen, daß es wohlüberlegte Irreführung der Oeffentlichkeit ist, wenn einige Tage lang von einer heimlichen Entführung Rosa Luxemburgs durch ihre Freunde gefabelt wurde. Nun sah ich keine Träne mehr in seinen Augen, wohl aber das immer erneute Aufzucken des Hohns und des Zorns: „Tiefer ist noch keine Regierung gesunken“, murmelte er mehrfach. „Wenn die preußische Generalsclique wieder zur Herrschaft kommt, wird sie den Noske behalten, denn solche Methoden nehmen selbst die preußischen Junker nicht verantwortlich auf die eigene Kappe.“ Es war erschütternd anzusehen, wie dieser große Geist noch im Absterben die höchste Kraft der Liebe und des Hasses in sich barg. Denn zu dieser Stunde hatte ihm der Gedanke an den gewaltsamen Tod seiner Freunde keine Ruhe gelassen. Nur notdürftig bekleidet, war er vom Bett aufgesprungen und wiederum stundenlang im Zimmer auf- und abgewandelt. Die sonst so fürsorgliche Lebensgefährtin konnte hier nicht schützend eingreifen, denn sie lag in diesen schrecklichen Tagen selbst schwer krank danieder. Die Folge dieser nächtlichen Wanderungen war eine starke Erkältung, aus der sich eine schwere Lungenentzündung entwickelte. Diesem Angriff war der alte, von der früheren Schutzhaft ausgemergelte Körper nicht mehr gewachsen. So starb Mehring am Tode seiner Freunde.
*Eduard Fuchs (1870–1940), marxistischer Kulturwissenschaftler, Historiker, Schriftsteller und Kunstsammler. Der Text vom 1. Mai 1919 entstammt einem Vorwort zur 2. Auflage (1919) von Franz Mehrings zuerst 1918 erschienener Karl-Marx-Biografie.
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