von Claus-Dieter König, Dakar
Die für 2015 angesetzten allgemeinen Wahlen in Nigeria bergen das Risiko, dass sich offene (und aktuell zum Teil sich verschärfende), aber auch latente Krisen zuspitzen und den weiteren staatlichen Zusammenhalt oder den zivilen Charakter der Regierung des Landes bedrohen. Über die Kontrolle einiger Städte im Nordosten durch die djihadistische Bewegung Boko Haram und vor allem die von ihr durchgeführte Entführung von 200 Schülerinnen berichteten auch in Deutschland die Medien ausführlich. Wenigstens im Niger-Delta, wo Milizen einen Krieg gegen den Staat und Ölkonzerne führten, herrscht momentan eine allerdings fragile Ruhe. Dort sind wichtige Führungspersonen der Milizen im Rahmen eines Amnestieprogrammes zu reichen Männern geworden, denn sie verwalten die millionenhohen Subventionen, die den demobilisierten Mitgliedern ihrer Milizen ein Auskommen sichern sollen. Goodluck Jonathan, Nigerias Staatspräsident, kommt aus dieser Region. Sollte er als Präsident nicht wieder gewählt werden, hat die Ruhe wahrscheinlich ein Ende.
Im Januar 2012 hatten soziale Bewegungen, angeführt von einer Koalition aus Gewerkschaften und der sogenannten Civil Society, ihre Macht demonstriert. Nach Märschen in über 50 Städten des Landes und einem Generalstreik zog die Regierung ihre Pläne zurück, die Subventionierung des Endverkaufspreises von Benzin und Diesel vollständig zu beenden. Der Preis stieg zwar trotzdem schmerzhaft an, aber er bleibt weiterhin fixiert und damit subventioniert. Der Treibstoffpreis wirkt sich direkt auf alle Lebenshaltungskosten aus, denn Strom aus dem öffentlichen Netz fließt nur ausnahmsweise und folglich sind Haushalte und Kleinbetriebe auf Stromerzeugung durch Dieselgeneratoren angewiesen. Zudem findet der Transport von Gütern und Personen fast ausschließlich auf der Straße statt. Die Organisatoren der Proteste sagen, dass die Rücknahme der Subventionen eine politische Offensive gegen die Armen des Landes gewesen wäre.
Extreme Armut, auswegloser Mangel am Überlebensnotwendigen sowie die Unmöglichkeit, dieses selbst zu produzieren, findet sich vor allem in den Krisenregionen im Nordosten und im Niger-Delta. Im Nordosten sind es nicht nur die kargen natürlichen Bedingungen des Sahel, sondern zudem eine verfehlte Landwirtschaftspolitik, die ländliche Armut zum Massenphänomen haben werden lassen. Und im Niger-Delta kann man direkt die ökologischen Zerstörungen durch die Erdölförderung als Verursacher benennen. In ganz Nigeria schließlich führen Korruption und Nepotismus dazu, dass auf Bundesebene, auf Staatsebene (das Land besteht aus 36 Bundesstaaten) sowie in den Lokalverwaltungen reichlich vorhandene öffentliche Gelder in private Taschen statt in Wirtschaftsförderung, soziale Programme, sinnvolle Agrarreform, Schulen oder Gesundheitsvorsorge investiert zu werden.
Der sonst meist rat- und initiativlose Präsidenten Jonathan kam deshalb Ende letzen Jahres auf eine Idee, denn auch er hatte verstanden, dass entweder der Zusammenbruch des Staates oder zumindest die Undurchführbarkeit der Wahlen von 2015 drohten: Eine Nationalkonferenz, an der alle sozialen Kräfte Nigerias teilnehmen, sollte über die Zukunft des Landes beraten. So also geschah es von März bis August dieses Jahres.
Vertreten waren vor allem die ethnischen Gruppen (von denen gibt es circa 400; Angaben in der Literatur weichen aber gern um mehr als 100 nach unten oder nach oben ab). Aber auch die Gewerkschaften (es gibt zwei große Dachverbände) und die Zivilgesellschaft waren repräsentiert.
Die politische Linke sah dabei durchaus die kritischen Punkte der Nationalkonferenz, denn es ging unter anderem darum, durch die Veranstaltung eine neue Protestbewegung wie die vom Januar 2012 zu verhindern. Schließlich aber einigte sie sich auf eine Doppelstrategie der Teilnahme bei gleichzeitiger umfassender Information und sozialer Mobilisierung der Bevölkerung. Die Koalition aus Gewerkschaften und Zivilgesellschaft, die 2012 die Proteste getragen hatte, wurde dabei erneuert, und meist agierten ihre Delegierten gemeinsam als ein Block.
Mehr als 600 Resolutionen und andere Dokumente auf 10.335 Seiten produzierte die Konferenz, die vor allem in Ausschüssen arbeitete. Die Ergebnisse stellen wohl kaum einen Erfolg dar, denn für die staatsbedrohenden Krisen bieten sie lediglich ein Management an, das kaum verspricht, besser zu sein als das bisherige. 18 neue Bundesstaaten sollen geschaffen werden – ein in Nigeria altes und inzwischen ausgeleiertes Mittel, um ethnischen Gruppen „ihren“ Bundesstaat zu gewähren, wodurch deren Eliten dann Zugriff auf den großen Kuchen staatlicher Gelder haben. Die Ebene der lokalen Verwaltung soll vollkommen reformiert werden. Statt einheitlich wie bisher national soll jetzt jeder Bundesstaat sein System kommunaler Verwaltung unabhängig entwerfen. Damit würde Stoff für neue Konflikte geschaffen, denn auch auf kommunaler Ebene gilt in Nigeria: Wer in den Verwaltungen das Sagen hat, wird reich. Um dieses Geld wird mit allen Mitteln, zu denen nicht selten ethnische Vertreibung gehört, gestritten.
Zur Wirtschaftspolitik beschloss die Konferenz Widersprüchliches: Einerseits liest sich ihr Report zu diesem Bereich wie eine Ode an den Neoliberalismus, andererseits beschloss sie die unmittelbare Umsetzung und rechtliche Wirkung von Artikel 16 der Verfassung, die die Verwaltung und das Betreiben der wichtigsten Sektoren durch den Staat vorschreibt und dabei einen Katalog sozialer Ziele des Wirtschaftens festlegt.
Einen Erfolg feierte die Koalition aus Gewerkschaften und Zivilgesellschaft: Der Ausschuss zu Finanz- und Haushaltsfragen hatte wegen der hohen Kosten das Ende der Treibstoffsubventionen empfohlen. Auf Antrag der Delegierten der Koalition beschloss das Plenum das Gegenteil: Zunächst soll Nigeria die Raffineriekapazitäten ausbauen, die für eine Selbstversorgung notwendig sind. Die Korruption, die wahrscheinlich mehr als die Hälfte der Subventionsmittel verschlingt, soll gestoppt und die für sie Verantwortlichen sollen hart bestraft werden. Sei dies gelungen – die dafür angesetzte Dreijahresfrist erscheint sehr ambitioniert –, könne das Thema Abschaffung der Subventionen neu diskutiert werden. Die politische Linke sieht in diesem Erfolg ein wichtiges langfristiges Ergebnis der Proteste von 2012.
In einem Beschlussantrag an die Nationalkonferenz hieß eine Forderung „Prayer“, also Gebet. Das weist nicht nur daraufhin, dass in Nigeria Religionen eine wichtige Rolle spielen. Auch im Hinblick auf die Realisierung der Beschlüsse der Nationalkonferenz könnten Gebete nicht schaden, denn formal bindendsind diese nicht. Präsident Jonathan hat der Konferenz war die Umsetzung der Beschlüsse zugesagt, ob er, den Willen dazu vorausgesetzt, die Gelegenheit dazu haben wird, entscheidet sich aber erst im Februar 2015. Der erste Wahlgang für die Wahl des Präsidenten und des nationalen Parlamentes ist für den 14. Februar geplant, eine Stichwahl muss binnen sieben Tagen nach amtlicher Bekanntgabe des Wahlergebnisses durchgeführt werden.
Insgesamt erscheint die Zuspitzung der Krisen im Lande bis mindestens bis dahin weiter wahrscheinlich.
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