17. Jahrgang | Sonderausgabe | 11. August 2014

Krieg im Osten

von Richard Rau

Nach vier Wochen friedlicher Arbeit, mit Ausflügen in den Taunus auf den Großen Winterberg, mit Ausnutzung der uns zugebilligten Kurmittel, durch die ich mich wie ein Kurgast fühlte, ereilte mich mein Geschick. Ich erhielt einen Gestellungsbefehl zum 15. Juni (1915) nach Friedland in Hessen, das fünf Kilometer entfernt von Nauheim liegt. Das Wahrzeichen Friedlands ist eine alte Burg, die dem Zaren von Rußland als Wohnung diente, wenn er nach Hessen zu Besuch kam. Bekanntlich war seine Frau eine hessische Prinzessin.
Die jüngste meiner Schwestern verlebte in dieser Zeit ihren Urlaub in Bad Nauheim. Ich durchkostete noch einmal in vollen Zügen meine Freiheit. Am nächsten Morgen brachte sie mich in die Kaserne.
Es gab nicht nur einen preußischen Drill – es gab auch einen hessischen! Und der war noch schlimmer!
Ich lernte ihn kennen mit allen seinen Auswüchsen. Ich wurde hier meines Berufes wegen für etwas Besonderes gehalten und da hatte ich von vornherein nichts zu lachen. Weder bei den Kameraden, noch beim Stabsgefreiten, noch beim Unteroffizier. Der kannte den Unterschied zwischen Schauspieler und Schausteller nicht und fragte mich ernsthaft nach den Jahrmärkten, die ich bereist hätte.
Der Stubengefreite, ein schon älterer zerknitterter Mann hetzte in meiner Abwesenheit meine Kameraden auf, mein eigenes Geschirr (Kaffetasse und Milchtopf – es war mir nicht angenehm, mir alles aus dem zugeteilten Blechnapf zu genehmigen) zu zertöppern. Ich war von Anfang an bedient. Und dann der Schliff auf dem Kasernenhof! Ich war durchaus kein Schlappje, sondern immer ein guter Turner gewesen. Aber die Sinnlosigkeit dieser Art des Geschliffenwerdens löste bei mir ganz anderes aus: ich lachte!
„Rau grins se net!“, schrie er und jagte mich über den Kasernenhof. Erst später ging mir der blutige Ernst dieser Menschenschinderei auf: wir wurden innerhalb sechs Wochen reif gemacht für die Front.
Nein, ich war kein guter Soldat, ich spielte diese Rolle widerwillig, miserabel und mit passiver Resistenz. Dabei war ich nichts als ein harmloser Knabe, der nur Theater spielen und sonst „in Frieden“ gelassen sein wollte. Ich fing an den Krieg zu hassen und alles, was damit zusammenhing.
Ich hatte nicht den Ehrgeiz militärisch eine Karriere zu machen und brachte es nicht mal bis zum höchsten Grad der Gemeinheit – nicht einmal bis zum Gefreiten! Der Kuriosität halber muß ich notieren, dass ich an der Front nicht einen Schuss „gegen den Feind“ abgegeben habe.

*

Nach sechs Wochen wurden wir zur Fahrt an die Front verfrachtet. Nach dem Osten. In Berlin hielten wir auf dem Schlesischen Bahnhof – lange – ich erbat beim Transportoffizier Erlaubnis nach Hause fahren zu können, die ich auch (Urlaub auf Ehrenwort) erhielt. Meine Angehörigen waren froh mich zu sehen und traurig der Ungewissheit wegen, in die ich auch hinein fahren sollte. Mein Bruder war inzwischen auch Soldat an der Westfront.
Es war eine lange und langweilige Fahrt, die uns durch Schlesien über Prag – Brünn zum Wiener-Neustadt-Bahnhof brachte, von dort durch endlos scheinende Pusta-Steppen nach dem herrlichen Budapest und von dort auf Nebenstrecken durch das damalige Russisch-Polen nach Galizien zu dem Kampfschauplatz vor Tarnopol. In Breczani wurden wir ausgeladen, übernachteten wohl zwei Tage in einer Schule auf den harten Bänken. Mein Blick fiel gleich beim Marsch durch die Stadt auf das schöne Theatergebäude, welches nunmehr zum Wehrmachtsmagazin und Lagerhaus degradiert war. Ich seufzte! Bei den langen Märschen und Übernachtungen im Freien bekam ich eine Vorgeschmack dessen, was uns allen bevor stand: Vormarsch auf Tarnopol.
Wir kamen in Schützengräben, mit sehr leicht gedeckten Unterständen – und dann sahen wir Tarnopol brennen. Ein Gegenangriff bescherte uns eines Tages Trommelfeuer und feindliche Schrapnelle. Und dabei hatte ich mehr Glück als Verstand. Neugierig war ich aus dem Schützengraben geklettert – und da setzte es auch schon ein. Eine Granate platzte in ziemlicher Nähe und ein Erdbrocken sauste mir mit unanständiger Wucht gegen mein linkes Knie, so daß ich kopfüber in den Graben zurückstürzte. Ich hatte rasende Schmerzen und konnte nicht wieder aufstehen. Als der Angriff vorüber war, fanden mich Kameraden und ein starker Kerl namens Wagner aus Frankfurt a.M. nahm mich Huckepack und brachte mich mühselig hinter die Front durch einen schmalen Laufgraben in die Sanitätsstelle. Inzwischen war mein Knie auf das doppelte Maß angeschwollen und der Arzt stellte einen starken Bluterguß fest.
Nach eine paar Tagen hilflosen Liegens brachte mich ein Panje-Wagen, auf dem ich weder sitzen noch liegen konnte, zur Sanitätssammelstelle, und nach abermals einigen Tagen wurde ich nach Stry verfrachtet und kam in eine feststehendes Feldlazarett. Hier wurde mir ein Gipsverband angelegt und ein anständiges Bett zugewiesen. Nach einer Woche bereits ging ein Lazarettzug nach Berlin, der mich mitnahm. […]
Sechs Wochen dauerte mein Lazarettaufenthalt in Jauer, bei dem ich die ebenso herrlichen schlesischen Klösse kennenlernte und im Original das „Schlesische Himmelreich“ (Birnen und Klösse). […] Mitte Dezember erhielt ich drei Wochen Genesungsurlaub nach Berlin zu meinen Angehörigen. Ich hängte mich sofort an die Strippe, rief in Wismar an und fragte den erstaunten Direktor Albers sehr naiv, ob er einen guten jugendlichen Liebhaber gebrauchen könne, aber reklamieren müsse. Das kam ja damals oft genug vor. Er verstand sofort und sagte wie selbstverständlich: „Aber natürlich! Setzen Sie sich sofort auf die Bahn und kommen Sie hierher, alles andere mache ich schon…“
Sylvester feierten wir natürlich alle zusammen im alten „Reuter Haus“ auf dem Marktplatz mit dem alten Brunnen bei Grog und Wein, und als gegen ein Uhr unsere Stimmung auf dem Höhepunkt angelangt war, stellte sich prompt die Katastrophe ein. Sie traf mich – Hans Huckebein – den Unglücklichen (den ich zuvor gespielt hatte). Direktor Bartsch stürzte urplötzlich ins Lokal, nahm mich beiseite und eröffnete mir, vom Bezirkskommando sei angerufen worden. Ich müßte mich sofort dort melden und in der Nacht wahrscheinlich noch nach Worms zu meinem Ersatzbataillon zurückfahren, da mein Urlaub nicht verlängert sei. Mein Herz fiel in die Hosentasche. Was blieb mir übrig?
Ich sauste nach Hause, zog meine Uniform an, packte ein paar Kleinigkeiten, lief zum Bezirkskommando, erhielt einen Freifahrschein nach Worms und saß schon um zwei Uhr im D-Zug über Hamburg – Frankfurt am Main – nach Worms, kam gegen 10 Uhr am Neujahrsmorgen (!) dort an, lief zur Kaserne und zu diensthabenden Kompaniefeldwebel um mich zu melden.
Der wünschte mir ein frohes Neues Jahr (welch ein Hohn dachte ich), drückte mir ein paar Papiere in die Hand, rückständige Löhnung und Urlaubsgeld und verkündete mir, daß ich bis auf weiteres entlassen sei!!! Ich sperrte Mund und Nase auf, machte strammste Kehrtwendung – und draußen war ich. […]
Um meine Zukunft gaukelte das Schreckgespenst des Krieges, der noch immer die Herzen mit Bangen erfüllte und der nun in das Stadium eines Stellungskrieges getreten war. Zumindest an der Ostfront, so daß ein Ende nicht abzusehen war.
Ich wurde erneut gemustert und mußte nach Worms zurück!
Obwohl ich g.v.(garnisonsverwendungsunfähig) geschrieben war – eines Herzfehlers wegen – und ich einer sog. Genesungskompanie zugeteilt war, machte man uns wieder „fertig“. Gewaltmärsche hielten uns „zünftig“ und ein Handgranatenwerfer-Kursus auf dem Darmstadt-Grießheimer Exerzierplatz klärten mich bald darüber auf, was mir wieder blühen würde. Zuteilung zu einem Arbeitsbataillon täuschte mich allerdings darüber hinweg.
Ich kam nach Alsfeld in Hessen – in die „Schwalm“ – wo ich zum ersten Mal in meinem Leben die Schwälmer Bauern und Bäuerinnen in ihren reizenden hessischen Volkstrachten umherstolzieren sah. Ich kam zu einem Landvermesser in Privatquartier dessen Sohn (Tierarzt), dessen Braut und deren Schwägerin mir liebe Freunde wurden und die ich noch heute in ebenso lieber Erinnerung habe. Ich fühlte mich wieder Mensch.
Aber auch diese Herrlichkeit dauerte nicht lange; wir wurden hier nur zu einem noch größeren Transport zusammengestellt und wieder nach Russisch-Polen verfrachtet. Es war Anfang August 1916. Diesmal fuhren wir durch Ostpreußen, über Warschau nach Baranowitschi, seitwärts von Smorgon. Von dort brachte uns eine Feldbahn – von deutschen Soldaten gebaut – ca. 60 bis 100 Kilometer weit ins Land, in die Gegend von Danjuschewo, wo wir eine verlassene ausgebaute Stellung bezogen. Da es in unmittelbarer Nähe nichts zu schießen gab, die Russen wie auch wir waren damals schon recht kampfesmüde, mußten wir jeden Tag, drei Stunden der Front zuwandern um dort Stellungen auszubauen oder alte zu renovieren, Landstraßen ausbessern, verschlammte Wege mit Knüppelholz befestigen. Dann marschierten wir wieder drei Stunden zurück. […]
Ein anderes Mal stand ich im Graben und hatte Wache. Es war eine sternklare Nacht. Kennt ihr den russischen Sternhimmel im Herbst? Er ist unvergleichlich schön. Sternschnuppen fielen, wie ich es nie erlebt habe. Dazu in der Ferne aufsteigende Leuchtkugeln verschiedener Farben und Leuchtspuren von einzelnen Kugeln und leichten Granaten. Es war ein grandioses Feuerwerk. Plötzlich tönte aus dem russischen Schützengraben Gesang – ein Tenorsolo. Worte verstand ich nicht – aber diese Stimme werde ich nie vergessen: leise schluchzend und klagend wie eine Nachtigall, dann plötzlich hell jubelnd und wieder ins Piano übergehend, langsam verhallend. Ich war wie gebannt! Ein Gruß – vom Feind? Menschen wie Du und ich – Friedenssehnsucht gleich mir, warum mußten wir uns feindlich gegenüberstehen? Ein Haß stieg in mir auf! Nicht gegen den „Feind“!
Endlich, nach 13 Monaten erhielt ich den mir zustehenden Heimaturlaub, den ich nach Berlin […] nahm. Hier sah es traurig aus. Meine Jugendfreunde waren eingezogen; und zu Hause eröffnete man mir, daß unser Haus und unsere Wohnung „beschattet“ wurden: Mein Bruder war desertiert! Aber klugerweise ging er nicht zu meinem Vater. […] Man fand ihn nie. […]

*

Ich fuhr mit gemischten Gefühlen nach Rußland zurück. Dort fand ich meine Formation nicht gleich. Sie war verlegt und ich mußte ihr tagelang nachreisen. Es war ein ziemliches Durcheinander an den Frontabschnitten. Als ich dann endlich meine Truppe fand, wurde mir eröffnet, daß ich sofort wieder nach Berlin fahren solle, meine Zivilgarderobe zu holen, ich sei an das Fronttheater kommandiert. Nach Rückkunft habe ich mich in Slonim, dem „Deutschen Theater an der Ostfront“ zur Verfügung zu stellen. Obwohl ich mich freute, fragte ich mich im Stillen, wozu noch ein Fronttheater? Der Krieg muß doch bald zu Ende sein, der Stimmung nach, die in Berlin herrschte, zu schließen. Und wenn wir schon an der Front nichts richtiges mehr zu essen bekamen, in Berlin war es noch viel schlimmer!
So fuhr ich dann sofort wieder retour nach Berlin, packte diesmal drei Koffer, und mit ziemlichen Umständen des Gepäcks wegen gelangte ich erst nach Tagen in Slonim an und meldete mich beim Leiter des Theaters, einem Leutnant, Schauspieler vom Hoftheater in Mannheim. Er sah gut aus, blond, mit Monokel, der typische „1. Bonvivant“, mit erstaunlich arrogantem Auftreten. Das männliche Personal setzte sich aus kommandierten Soldaten vom Gemeinen bis zum Feldwebel zusammen. Es waren durchweg gute, ja sogar sehr gute Schauspieler, bis auf einen, der aber ein lieber hilfsbereiter Mensch war. – Und einem Dilettanten, den ich Jahre später in Magdeburg als Versicherungsagenten wieder traf.
Wir bekamen einheitlich 175,00 Mark Monatsgage, freie Unterkunft und Offiziersverpflegung, hatten ausdrücklichst die Erlaubnis Zivil zu tragen und unterstanden direkt Ober-Ost. Von der Erlaubnis Zivil zu tragen machten wir aus Bequemlichkeits- und Sparsamkeitsgründen nicht immer Gebrauch.
Die Damen kamen aus Berlin und waren sehr gute Schauspielerinnen von Berliner Theatern oder bester Provinz. Wir spielten gutes Theater. Sicher mit auch wenig Proben, aber „studierte“ Stücke, wie „Minna von Barnhelm“, „Flachsmann als Erzieher“, „Biberpelz“, „Großstadtluft“, Charlys Tante“, „Jugendfreunde“ und „Schnitzler Einakter“. Inzwischen hatte die Russen Revolution gemacht und die ewig dummen Deutschen hatten das Friedensangebot der Sowjets abgelehnt! Der Krieg ging weiter!
Wir hatten unser Stammquartier in Slonim – ich wohnte sehr einfach bei jiddisch sprechenden Juden, mit denen ich mich aber glänzend verständigen konnte. Einmal wurde ich zu einem jüdischen Fest von ihnen eingeladen. Noch heute denke ich mit Rührung daran, sie hatten selbst kaum etwas. Es gab einen großen Berg Kartoffelpürré, nur trocken überbacken und jeder aß von diesem Berg so viel er mochte. Ich kaute an diesem trockenen Zeug. Ich wollte sie nicht beleidigen, denn inzwischen war ich wieder verwöhnt. Wir lebten nämlich in der „Etappe“. Da gab es einfach alles! Die armen Soldaten an der Front mußten darben und frieren, und fürs „Vaterland“ kämpfen und sterben – und hier wurde geprasst!!! Da lernte ich sehr schnell sehen und begreifen.

Richard Rau (1895-1973) war Schauspieler und lebte in Berlin. Der wiedergegebene Text ist ein Auszug aus seinen noch ungedruckten Erinnerungen „Die im Schatten leben – auch ein Kampf für die Kunst“. Das Manuskript stellte uns freundlicherweise Rainer Rau (Berlin) zur Verfügung.