17. Jahrgang | Sonderausgabe | 11. August 2014

Feldpostbriefe über die Schlacht bei Tannenberg

von Alfred Faust

Neisse, den 1.9.1914

Lieber Stiegler!
Da schlag‘ einer hin! Nun sitzt der Faust in Neisse bei einer Tasse Hag!
Ja, aber er hat ein Riesengefecht hinter sich, und zwar das von Hohenstein, auf dem rechten Flügel der 3tägigen Schlacht Tannenberg-Ortelsburg-Gilgenburg. […] Soll ich Ihnen die Schlacht erzählen? Es hat keinen Zweck: Eine sieht der anderen ähnlich, nur die Namen sind verschieden: Pfeifen der Kugeln, Donner der Kanonen, Schreien der Verwundeten, entsetzlich zugerichtete Leichen usw. Denken Sie an das „Menschenschlachthaus“; es ist noch darüber, hinsichtlich der Tatsachen natürlich und abzüglich der dichterischen Beigaben. Vom Wege nach Ostpreußen habe ich Ihnen eine Karte geschrieben, ich hätte tot sein können, ehe Sie sie erhielten. Nur Zufall, ganz blinder Zufall: Links Tote, rechts Verwundete, dazwischen bleibt einer, ohne dass er ein Verdienst daran hat, leben und völlig unverletzt, wie ich. Im nächsten Gefecht kann es umgekehrt sein.
Also von Heide bis Bisellen in Ostpreußen. 54 Stunden Eisenbahnfahrt in den bekannten Wagen ohne Schlaf. (In Klammern, es ist mir gelungen, was keinem Offizier und keinem Soldaten gelang, zwischen Spandau und Berlin meine Frau eine halbe Stunde zu sehen und zu sprechen. Ein Telefongespräch aus Wittenberge hinter dem Rücken des ganzen Transports, intelligentes Nachforschen und Bezwingen aller Hindernisse seitens meiner Frau [die Haltestelle war nicht bekannt. befand sich sogar auf freiem Felde], und die Sache war gemacht zum Erstaunen aller Kameraden! Ein Teufelskerl dieser Faust!) Freitag 3 Uhr morgens in Bisellen Ankunft; weithin hatten die Russen die Bahnen besetzt oder demoliert. Eine warme Suppe, dann 4 Stunden Eilmarsch mit gepacktem Affen. Auf dem Marsche blieben schon ein paar liegen. Um 8 Uhr Heraustreten aus dem Walde, und schon fielen die ersten Schüsse. Die Bremer Landwehr griff zuerst an und hatte das mörderische Feuer auszuhalten, teilweise von Maschinengewehren und Artillerie und von den verschanzten Russen, die übrigens glänzend schießen und sicher nicht mit Platzpatronen. Es wird in Bremen Tränen geben, wenn die Verlustliste herauskommt. Einfach entsetzlich, alles Familienväter. Landwehr ins erste Treffen, keine aktiven Truppen vor uns, keine deutschen Maschinengewehre, wenig Artillerie. Am stärksten mitgenommen sind die 75er Landwehrleute.
Ich will alle Stimmungen, Beobachtungen, Kritiken unterdrücken bis zur Rückkehr. Hier in Neiße werden wir auf den Straßen bestürmt. Jeder will etwas und viel wissen. Bei den Erzählungen wird dann – menschlich – übertrieben und geschwindelt und ergänzt, als wäre die größte Schlacht der Jahrtausende geschlagen. Jedem geht der Blick fürs Ganze verloren, jeder ist ein großer Egoist!
Um 1 Uhr hatten wir die Russen zurückgeschlagen und das Städtchen Hohenstein erobert. Wie es aussah, wie die Russen darin gehaust haben, ist nicht zu beschreiben. Wenigstens die Häuser standen noch. Da unsere Truppen auch von der anderen Seite angegriffen hatten, waren im Dorf zahlreiche Gefangene zusammengetrieben. Als wir zum Abmarsch fertig waren, wurde aus den Fenstern von versteckten Russen auf uns geschossen. Sie können sich den Wirrwarr vorstellen. Alle Gefangenen wieder in die Häuser und Löcher, aus Angst natürlich viele blindlings totgeschossen, von uns noch zwei Leute. Ein Schuss traf das Pferd, neben dem ich stand. Ich will aufhören mit der Schilderung. Dann 8stündiger Marsch mit dem Gefangenen-Transport bis 12 Uhr nachts bis zu einer Station. 2.400 Russen hatten wir zusammen verladen, 50 in einen Wagen, 43 Stunden Fahrt bis Lamsdorf Oberschlesien. Dort endlich eine Nachtruhe. –
Jetzt zurück zur Kompagnie in Ostpreußen. Drum bin ich heil und munter in Neisse. Bis wir die Truppen wiedergefunden halten (wir werden sicher nur die Hälfte der Kameraden wiedersehen) können Tage vergehen.
Über die Schlacht im Osten werden Sie alle durch Zeitungen unterrichtet sein. Wir haben sie erlebt, vielleicht auch andere Hagianer, denn sämtliche holsteinischen Landwehr-Truppen sind nach dem Osten geworfen worden. Die östlichen Korps waren an der Westgrenze zum Teil wenigstens. Wieviel wiederkehren werden? Schade, dass, ich keine Adresse von Direktor Weidenmann, Koter usw. besitze, sonst könnte ich mich vielleicht bei überlebenden Kollegen erkundigen. Briefe erreichen uns aber nicht. Von meiner Frau waren 7 Briefe unterwegs, kein einziger hat mich erreicht.
Lieber Stiegler, ob ich einen zweiten Brief schreiben kann, ist fraglich. Kommen neue Gefechte im Osten, sind wir Überlebenden dabei. Ob mir der Zufall dann wieder das Leben schenkt, ist eine Schicksalsfrage. Perche si, perche non! Entsetzlich dieses Menschenmorden, diese Kulturlosigkeit! Unglücklich der Mann, der mit Verstand in den Krieg geht und der im Kugelregen denkt, rechnet, Kulturbetrachtungen treibt, also einfach den Verstand behält.
Zur Veröffentlichung oder teilweisen Verwendung ist dieser wirre Brief nicht bestimmt. Es fehlt ihm auch die Begeisterung, die jeder Leser in solchen Feldbriefen finden will. Begeisterung ist aber vielfach Übertreibung, Fälschung der Tatsachen. Unzählige haben sie, ich behalte leider die kritisierende Kühle, die nur die Wahrheit sieht. Der Gefangentransport hat mir viel Gelegenheit zur Beobachtung und zur Kenntnis der Russen gegeben. Dabei war ich einige Stunden allein in einem Trupp von 15 russischen Offizieren, mit denen ich mich so kameradschaftlich verständigt habe, wie sicher nicht mit den eigenen. Der eine sprach recht gut Französisch. Wir haben über russische Literatur geplaudert, über Krieg und Truppen, russische Verhältnisse und insbesondere über die Schlacht von Hohenstein, ich hatte auf dem Felde eine russische Generalstabskarte gefunden und ließ mir nun die russischen Stellungen, Marschbewegungen usw. erklären, desgleichen die Wirkungen unserer Geschosse, das Treffen unserer Artillerie. Es stellte sich heraus, dass der Zug dieses Leutnants gerade mir gegenüber lag, also sicher einen Teil meiner Kompagniekameraden getötet hat. Sollte ich ihm deswegen zürnen? Er hat seine Pflicht getan, genauso wie wir. A la guerre comme à la guerre!
Jedenfalls habe ich von diesen Gesprächen viel profitiert und werde später – wenn der Gott Zufall… –, das die Bremer insbesondere interessierende Gefecht von Hohenstein mit Sachkenntnis beschreiben können wie kaum ein Offizier vom Generalstab. – Nun Schluss, es muss weitergehen, Breslau zu. Den Brief können Sie allen Herren zeigen nach Gutdünken, aber nicht für die Öffentlichkeit. Ich weiß nicht, ob es schon bekannt ist in Bremen, dass die 75er Landwehrleute dabei waren. Die ersten Tränen möchte ich nicht herauslocken; das ist Sache des Generalstabs und der Verlustlisten, die Wochen auf sich warten lassen. Also, L[ieber] St.[iegler], versprechen Sie mir Vorsicht.
Wie geht‘s dem Hag? Kaffee verschlingen die Soldaten unheimlich. Wenn ich nicht wüsste, dass Ihr jede Bohne zum Versand benötigt, würde ich vorschlagen, etwa 10.000 Kilo dem Roten Kreuz zu stiften und durch eine redaktionelle Notiz darauf hinzuweisen. Also „Trick Helgolandfahrt“ oder Kriegsunterstützung der Beamten und Arbeiter. Die Reklame dürfte in diesen „wunderlich patriotischen Zeiten“ so viel wert sein als der Kaffee. Über die Opportunität des Vorschlags kann ich leider nicht urteilen.
Grüßen Sie alle Herren und Damen von mir, insbesondere Beiss, von Hülst, Stelloh, Knospe, Braunack und seien Sie herzlich gegrüßt von Ihrem
Faust – Reklamechef und Lebendgebliebener Landwehrmann.

 

(Brief an Stiegler in Bremen)

Osowicz (Ossowitz) bei Bromberg, 30. September 1914

Ja, Russland, das geht nicht so schnell. Am 14. und 15. standen die Russen noch 3 km von Lyck (sogar sibirische Regimenter sind festgestellt worden) und sind von unserer Division zurückgedrängt worden. Wir 75er waren nur ohne Verluste im Schrappnellfeuer. Aber die 31er, 76er und 84er haben gelitten; einige sogar in den Morastsümpfen ertrunken (nichts furchtbarer als im Krieg verunglücken, oder was noch häufiger vorkommt, von eigenen Truppen versehentlich totgeschossen zu werden!) Erst nach dieser Schlacht konnten wir die Grenze überschreiten. Wann zum zweiten Mal ist eine andere Frage. Unsere Landwehrleute sehnen sich nach Bremen. Einige würden den Weg von hier nach Bremen zu Fuß zurücklegen. (Letzter Satz gestrichen! – d. Red.)
Wir liegen hier in einem polnischen Nest, einer Flohkiste. Die offizielle Ortsbezeichnungstafel ist mit einem Plakat überklebt: „Lausdorf“. Auf einem Eckstein befindet sich ein Kreidepfeil: „Nach Bremen“.
Die Mittage sind gleich heiß, die Nächte eiskalt. Die Kartoffeln erfrieren. Reif liegt auf Flur und Dach. Die gestrige Nacht war eine der furchtbarsten: unsere Kompagnie war als Artillerie-Deckung bestimmt. Wir lagen in einer Scheune 8 km von der Festung Ossowitz. Um 1 Uhr weckten uns die Granaten, nicht weil sie bumsten, sondern weil sie über und neben uns platzten. Dieser Höllenlärm. Sofort alles raus aufs freie Feld, wo wir von 1 Uhr an in der Kälte standen, während 40 russische Festungsgranaten ringsherum – ohne uns zu treffen – platzten, aber jede einzelne. Das Gefühl können Sie sich vorstellen. Ich hätte mal den sehen mögen, der nicht alle Kriegslust zum Teufel jagte und sich bei seiner Frau in Bremen wünschte. An diesem Morgen 4 Uhr habe ich Ihre Briefe und Zeitungen gelesen, die bei Dunkelheit verteilt worden waren. Historische Augenblicke! In dieser Schreibstunde – am Boden auf dem Knie – tobt der Artilleriekampf; unsere Artillerie hat endlich Stellung gefunden und sich ca. 8 km vor den Forts aufgestellt. Wie lange es dauert, welches Resultat, erst morgen. Erstürmen können wir nicht, weil vor uns nur Sümpfe sind. Die unbekannten erstklassigen Forts bilden aber den Schlüssel zu Russland.
Wenn die Bissen unsere moralischen Qualitäten hätten, wäre alles Siegen nicht so einfach. Aber technisch und strategisch sind sie – wahrscheinlich durch die Franzosen – auf der Höhe. Vor wenigen Tagen wurde bekannt gemacht, auf Flieger darf nicht geschossen werden, denn die Russen haben keine. 2 Tage drauf umkreisen uns 2 Flieger, es sind Russen. Wir haben darauf geballert, aber ohne Erfolg. Tagsüber beobachten 2 Fesselballons unsere Bewegungen, nachts spielen Scheinwerfer. Bums, eine Granate: 30 Sekunden sieht sie durch die Hechtluft… bums, eine Minute darauf brennt ein halbes Dorf, in dem unsere Feldwache war. Ein schaurig-schöner Anblick! Sonst wurde immer behauptet, die russischen Granaten sind schlecht und zünden nicht.
Genug davon! Beten sie zum großen Siegfried, dass er uns Sieg und Frieden und mir eine hörnerne Haut verleiht, damit ich ihnen noch mehr erzählen als schreiben kann.
Ein Wink: Zum Schreiben würde mir ein kleiner, nicht klecksender Füllfederhalter Dienste leisten. Meiner ist kaputt und dazu gestohlen (nicht allein, sondern der Gillette-Rasierapparat mit, auch ein Kapitel zum Thema Kameradschaft).
Ich war Ihrem Wunsch zuvorgekommen und hatte von Hohenstein einen russischen Offiziersdegen 40 km zu Fuß mitgeschleppt, um ihn Ihnen zu schicken. Es war – ganz merkwürdig – ein vernickelter, ungeschliffener Paradedegen. Solinger Fabrikat. Also die Kosaken schlagen uns tot mit unserem Stahl.
Auf eroberten Maschinengewehren lesen wir: Deutsche Waffen- und Munitionsfabrik, Berlin. Und augenblicklich donnern aus der russischen Festung Krupp-Kanonen, die sicher manchen Kameraden ins Jenseits befördern! Schweinerei sondergleichen! Wie recht, als wir nach einem Waffenmonopol schrien!
Also diesen schönen Säbel führte ich im Transportzug mit. Vielfach wurde er herumgezeigt. Ein Bahnhofsoffizier wollte ihn mir sogar abkaufen, nichts zu machen! In Deutsch-Eylau, als ich einige Minuten aus dem Wagen war, benutzten neidische Kameraden die Gelegenheit und warfen bei der Ausfahrt den Säbel einem neugierigen Bahnarbeiter als Andenken zu! Ich schimpfe und fluche selten, aber bei diesem Rohheitsakt ging mir doch die Galle über! Von Verständnis, Rücksicht und Kameradschaft ist unter den Truppen keine Spur. Jeder missgönnt dem anderen einen Erfolg oder ein Stück Wurst. So großen Egoismus findet man nicht einmal unter den Handlungsgehilfen! Der Krieger ist eben mehr Vieh als Mensch. Bei der nächsten Gelegenheit, vielleicht bei der Eroberung der 1. Festung werde ich an Kriegsandenken denken. Der Versand ist nur schwierig, weil Postpakete noch nicht angenommen werden.

Alfred Faust (1883-1961), war als Werbefachmann vor dem Krieg bei Kaffee-HAG tätig. Faust war Teilnehmer der Schlacht von Tannenberg, danach war er an der Westfront eingesetzt. Nach 1918 war er unter anderem Chefredakteur der Bremer Volkszeitung, 1932 Mitglied des Reichstages. 1950 wurde er Pressechef des Bremer Senats. Die Brief-Originale befinden sich im Staatsarchiv Bremen, Bestand 7,94 – Nachlass Alfred Faust. Wir danken dem Staatsarchiv Bremen für die freundliche Genehmigung des Abdruckes.