von Hubert Thielicke
Die Orgel erfüllt die Kathedrale mit ihrem Klang, eine Nonne singt, der Botafumeiro, ein großes Weihrauchfass, schwingt durch das riesige Querschiff – erhabene Stimmung in Santiago de Compostela. Tausende Menschen aus aller Welt pilgern Jahr für Jahr in die Stadt im Nordosten Spaniens. Der Camino de Santiago erlebt heute eine „Renaissance“, nachdem er vor einigen Jahrhunderten nicht zuletzt durch die Reformation an Bedeutung verloren hatte. Erhielten 1970 nur 68 Personen die Pilgerurkunde, Compostela genannt, so waren es 1990 bereits 5.000 und in 2000 schon 55.000. Letztes Jahr kamen circa 216.000 Menschen, davon etwa 16.000 Deutsche, die damit nach den Spaniern den zweiten Platz einnahmen.
Warum tun sie das, legen so eine lange, beschwerliche Wanderung zurück? Die Mehrheit nimmt den Weg aus religiösen Gründen auf sich; für viele andere zählen spirituelle, persönliche und kulturelle Motive, das Streben nach Selbstbesinnung und „Entschleunigung“, nicht zuletzt auch die Freude an der Wanderung durch die abwechslungsreiche Landschaft entlang des Camino. Das Pilgerbüro in Santiago führt dazu eine akribische Statistik. Danach gaben im letzten Jahr etwa 54 Prozent „religiöse“ Gründe an, 40 Prozent „religiöse und andere“ sowie sechs Prozent „nicht-religiöse“ Motive. Auch in diesem Jahr wird es wieder eng in Santiago; im April kamen rund 17.000 Pilger an, im Mai bereits mehr als 27.000.
Es begann mit dem Camino primitivo – dem Ursprünglichen Jakobsweg, der von Oviedo, der Hauptstadt Asturiens, über das Kantabrische Gebirge in die alte Römerstadt Lugo führt, von dort dann zum Hauptweg, dem Camino Francés. Bereits vor etwa 1.200 Jahren soll der asturische König Alfons II. der Keusche diesen Pfad gezogen sein. Einige Jahre zuvor fand angeblich ein Einsiedler die Überreste des Jesus-Jüngers und Märtyrers Jakobus in der Gegend, die später Santiago de Compostela – Heiliger Jakob vom Sternenfeld – genannt wurde. Sein Bischof machte die Sache publik und die Pilgerschaft konnte beginnen. Die Geistlichkeit strickte weiter an der Story, verwiesen sei nur auf die erste Beschreibung des Jakobsweges durch den französischen Mönch Aymeric Picaud im 12. Jahrhundert. Die Legende wurde damit eine der öffentlichkeitswirksamsten des Mittelalters. Den jungen spanischen Königreichen am Rande der Pyrenäen kam das gelegen, wurde doch ein zugkräftiges Idol im Kampf gegen die muslimischen Mauren gebraucht. Die hatten zu Beginn des achten Jahrhunderts den größten Teil der Iberischen Halbinsel erobert. Unter dem Banner des „Matamoros“, Jakobs des Maurentöters, schoben die christlichen Teilstaaten ihre Grenzen immer weiter nach Süden vor.
Damit entstanden auch neue Jakobswege, vor allem der Camino Francés, der von Frankreich über die Pyrenäen, Navarra, Kastilien und Galicien nach Santiago führt, immerhin etwa 800 Kilometer. Ähnlich lang ist der Küstenweg ab San Sebastian. Etwa tausend Kilometer hat vor sich, wer den Via de la Plata geht, von Sevilla bis Santiago. Mit seinen fast 250 Kilometern ist dagegen der Camino Portugués ab Porto schon eher beschaulich zu nennen. Die längeren Wege bedürfen schon einer gründlichen Planung. Nicht jeder hat dafür fünf oder sechs Wochen Zeit. Vor allem spanische Pilger nehmen sich oft Teilstrecken von jährlich etwa einer Woche vor, brauchen so mehrere Jahre, um den ganzen Weg zu schaffen.
Hape Kerkeling war für den Camino Francés sechs Wochen „dann mal weg“. Mit seinem 2006 erschienenen Reisebuch, das seither eine Auflage von mehr als vier Millionen erreichte, trug er erheblich zur Bekanntheit des Jakobsweges in Deutschland bei. Während er seine Tour eher locker-unterhaltsam beschrieb, geht es der Brasilianer Paulo Coelho in seinem „Auf dem Jakobsweg“ mystisch-spirituell an. Das seit 1987 in mehrere Sprachen übersetzte Werk machte den Jakobsweg, aber auch den Autor, weltweit bekannt. Inzwischen gibt es eine umfangreiche Literatur – von diversen Wanderführern über Reiseschilderungen, historische Beschreibungen und sogar Krimis bis hin zu Bildbänden, die Landschaft und Kulturgeschichte veranschaulichen. Immerhin bietet der 1993 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärte Weg von der französischen Grenze bis Santiago ungefähr 1.800 Bau- und Kulturdenkmäler.
Sehenswert ist Pamplona, die Hauptstadt Navarras: die alte Festung, die größte auf der Iberischen Halbinsel, die Altstadt mit vielen Restaurants und Cafés, darunter das „Iruna“, wo Ernest Hemingway seine weltberühmten Stierkampfgeschichten notierte. Burgos und Leon warten ebenfalls mit vielen Sehenswürdigkeiten auf, vor allem ihren wunderbaren Kathedralen. Ein Verweilen lohnen ebenfalls Orte wie Puente la Reina, Estella, Santo Domingo de Calzada, Astorga oder Ponferrada. Der Weg ist gleichsam eine „Zeitreise“ durch die Geschichte und Kultur Spaniens. Man lernt aber auch vielfältige Landschaften kennen: das Pyrenäen-Vorland, die Weinberge von Navarra und La Rioja, die weite Ebene Kastiliens und schließlich das grüne, regenreiche Galicien.
Das gemeinsame Wandern wie auch die Pilgerrunde am Abend machen das Einzigartige des Jakobsweges aus: die Kommunikation mit Menschen aus aller Welt. Ob Pilger aus Kanada, Österreich, Neuseeland oder Portugal, es ist immer ein Gewinn, mit einem bis dahin unbekannten Menschen ein Stück des Camino zu gehen, sich auszutauschen, an den Gedanken und Erfahrungen des Anderen teilzuhaben. Schnell wird man Teil der großen Gemeinschaft, wenn auch Nächte in einem Schlafsaal mit 20, 30 oder mehr müden Schlafgenossen, von denen immer jemand schnarcht, gewöhnungsbedürftig sein mögen. Es müssen aber nicht immer solche Herbergen sein, denn es finden sich auch viele günstige Pensionen und Hotels. Der Camino verfügt über eine ausgezeichnete Infrastruktur.
In Galicien nimmt der Pilgerstrom erheblich zu. Dass es nun nicht mehr weit ist bis Santiago de Compostela, zeigen die Kilometerzahlen auf den Wegsteinen. Schließlich betritt man den Platz Praza do Obradoiro, über dem sich die Türme der Kathedrale in den Himmel recken. Hunderte versammeln sich hier täglich zur Mittagsmesse. Danach folgt noch etwas „Bürokratie“: Im Pilgerbüro legt man das Credencial – den Pilgerpass – vor, den unterwegs mit vielen Stempeln versehenen Nachweis, dass mindestens 100 Kilometer zu Fuß oder 200 mit dem Fahrrad oder zu Pferde zurückgelegt wurden. Letzteres ist durchaus kein Witz, immerhin kamen letztes Jahr fast tausend Pilger hoch zu Ross nach Santiago. Mit dem Erhalt der „Compostela“ ist die Pilgerschaft offiziell beendet. Wer noch Zeit und Energie hat, sollte nicht die knapp hundert Kilometer Wanderung bis zum Atlantik scheuen, nach Finisterre, für die alten Römer „finis terrae“ – das „Ende der Welt“. Und selbstverständlich gibt es auch dort eine Urkunde.
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