von Edgar Benkwitz
Ist er nun der neue Hoffnungsträger für das riesige Land mit seinen vielen Problemen oder nur ein Schaumschläger und Scharlatan, wie es so viele in Indien gibt? Oder vielleicht doch ein verkappter Diktator, der Indien in einen konservativen Hindustaat verwandeln will? Nach wie vor sind all diese Meinungen anzutreffen. Doch zunehmend wird deutlich, dass in dem jahrelang vor sich hindämmernden Indien, aus dem zuletzt nur noch negative Nachrichten kamen, etwas Bemerkenswertes geschieht: Eine Aufbruchstimmung greift um sich, ein neues Selbstbewusstsein ist erwacht.
Die neue Regierung hat in ihrer Tätigkeit die berühmten einhundert Tage noch längst nicht erreicht, aber schon jetzt werden deutliche Konturen sichtbar. Premierminister Narendra Modi macht Dampf, das ist der prägende Eindruck. Schluss mit Lethargie, Passivität und Pessimismus. Dafür Visionen, Pläne und aktives Handeln. So wurden für die Regierungsbildung nur wenige Tage benötigt. Das Kabinett ist bedeutend kleiner als seine Vorgänger, eine Vielzahl von Komitees und Arbeitsgruppen wurde aufgelöst. Verschlankung des Regierungsapparates, damit Abbau der Bürokratie, Eindämmung der Korruption sowie Effektivität und Transparenz sollen so erreicht werden. „Ein Minimum an Regierung, ein Maximum an Regieren“ – das ist einer der Leitsätze Modis. Als Minister wurden größtenteils kompetente Politiker berufen. Im Ausland wird man sich an ihre Namen gewöhnen müssen. So an Sushma Swaraj – die erste Frau als Außenminister Indiens. Sie, 1952 geboren, war bereits mit 25 Jahren Ministerin im Bundesstaat Haryana, dann Regierungschefin von Delhi. Bis 2004 bekleidete sie Ministerämter in der damaligen Regierung der Indischen Volkspartei (BJP). Oder Arun Jaitley, ebenfalls 1952 geboren, jetzt für Finanzen und Verteidigung verantwortlich. Ihm unterstanden schon einmal die Ressorts Handel, Industrie und Justiz. Während des Ausnahmezustandes unter Indira Gandhi war er 19 Monate im Gefängnis. Und schließlich Rajnath Singh, 1951 geboren, jetziger Innenminister, war Präsident der BJP sowie Ministerpräsident des bevölkerungsreichsten Unionsstaates Uttar Pradesh. Besonderes Aufsehen erregte die Reaktivierung von Ajit Doval. Als Nationaler Sicherheitsberater ist er direkt dem Premierminister unterstellt. Doval, langjähriger Chef des Geheimdienstes, gilt als der indische Meisterspion, der spektakuläre Aktionen vollzog. So bei der Niederschlagung der Sikh-Terroristen 1980, wo er sich in deren Zentrale im Goldenen Tempel einschmuggelte. 1999 gelang ihm die Freilassung von Geiseln aus einer entführten Verkehrsmaschine im Austausch gegen pakistanische Terroristen. Und im Nordosten des Landes befriedete er die Mizoram-Rebellen. Seine Berufung ist ein deutliches Signal an alle terroristischen und separatistischen Kräfte. Erwähnt werden sollte noch, dass ein Viertel des Kabinetts mit Frauen besetzt ist, auch der Sprecher des Parlaments ist eine Frau und als seine Nachfolgerin im Amt des Ministerpräsidenten von Gujarat ließ Modi eine Frau wählen. Er strafte damit all jene mit Lügen, die ihn als frauenfeindlich abstempelten.
Mit einer Rede des Präsidenten Indiens vor Unter- und Oberhaus sowie der Antrittsrede des neuen Premierministers wurde das Regierungsprogramm für die nächsten fünf Jahre vorgestellt. Absoluten Vorrang hat die wirtschaftliche Entwicklung, von ihr sollen auch positive Effekte auf die Lösung der dringensten sozialen Probleme ausgehen. Für Indien wahrhaft atemberaubend sind die Vorstellungen für die Schaffung neuer Industrien und von Infrastrukturmassnahmen. Da ist die Rede von Industriekorridoren, neuer hochmoderner Städte, von Staudämmen, Kanälen und Kraftwerken. All das erinnert an die Entwicklung in China. Mit einigen dieser Vorhaben beschäftigten sich schon Modis Vorgängerregierungen, beispielsweise dem Industriekorridor Delhi-Mumbai oder einem gigantischen Kanalprojekt, das die großen Flüsse Indiens untereinander verbinden soll. Planungen und Studien liegen vor, Finanzierungen wurden ausgelotet. Doch vieles blieb im Gestrüpp der Bürokratie und der Korruption hängen.
Der Regierungswechsel in Neu Delhi hat Indiens internationale Stellung sprunghaft steigen lassen. Indien entwickelt sich zu einem nicht zu übersehenden Machtfaktor, das ist die Botschaft. Narendra Modi signalisiert, dass er die internationale Zusammenarbeit braucht, um seine ehrgeizigen Projekte zu realisieren. Im Vorteil sind bewährte Partner wie Russland und Japan, mit denen Indien bisher keine Probleme hatte. China kommt entgegen, dass es sehr gute Beziehungen zu Modi pflegte. Während in den letzten neun Jahren die USA und die EU-Staaten Modi mit Einreisesperren belegten, wurde China von ihm vier Mal besucht, chinesische Investitionen flossen vornehmlich nach Gujarat. Jetzt war Chinas Ministerpräsident der erste ausländische Regierungschef, der mit dem neuen indischen Premier nach dessen Vereidigung telefonierte. Nur wenige Tage später besuchte Chinas Außenminister Neu Delhi, in dessen Ergebnis der Besuch des chinesischen Staats-und Parteichefs Xi Jinping in Indien für September fixiert wurde. Vorher wird es bereits im Juli ein Treffen zwischen Modi und Xi in Brasilien zur Tagung der BRICS-Staaten geben. Auch Russlands Präsidenten Putin wird Modi dort treffen. Den politischen Beobachtern in Delhi entging nicht, dass die USA alle Register zogen, um hier nicht abgehängt zu werden. Denn die ersten Kontaktaufnahmen verliefen recht kühl, zu tief sitzt das Misstrauen. Eine Einladung Modis zu einem Besuch der USA wurde mehrmals ausgesprochen. Jetzt wurde vereinbart, dass Modi während seines Aufenthalts zur UN-Vollversammlung in New York auch Washington besucht.
Das Umworbenwerden Indiens wird von der Diplomatie des Landes geschickt genutzt. Dabei geht es nicht nur um die dringend benötigten Investitionen, sondern vor allem auch um die Sicherheit des Landes. Indien braucht für seine Entwicklung ein friedliches Umfeld. Pakistanischer Terrorismus, Kaschmirproblematik, aber auch die ungelöste Grenzfrage mit China sind daher hoch angebunden. Robert Blackwill, früherer US-Botschafter in Indien und mit Modi seit 1991 bekannt, äußerte in einem Gespräch mit der Economic Times, dass der US-Präsident dem Thema Pakistan nicht ausweichen kann, will er das Vertrauen zu Indien wieder herstellen. Gemeint ist eine verlässliche Zusage, auf Pakistan einzuwirken, damit die immer wieder gegen Indien gerichteten terroristischen Aktivitäten unterbleiben und frühere, wie die schweren Anschläge in Mumbai und Delhi, endlich geahndet werden. Auch China wird erfahren müssen, dass attraktive Investitionsangebote allein nicht reichen. Gefragt sind seine Einflussnahme in Pakistan und akzeptable Lösungsvorschläge in der Grenzfrage. Alle Partner müssen sich darauf einstellen, dass ihnen jetzt ein stärker national ausgerichtetes und selbstbewussteres Indien gegenübersteht, das seine Ansprüche und Forderungen höher schrauben wird.
Und noch etwas fällt auf: Die von vielen gefürchteten hindunationalistischen oder gar chauvinistischen Töne sind nicht zu vernehmen. Die Fülle der Aufgaben lässt das nicht zu, und Premier Modi gibt wie schon in seinem Wahlkampf dafür keinen Anlass.
Indien steht vor einem bedeutenden Abschnitt seiner Entwicklung. Doch bekanntermaßen liegt der Teufel im Detail. Die anvisierte rasante wirtschaftliche Entwicklung wird von vielen Problemen begleitet sein: Umweltzerstörung, Luftverschmutzung, massenhafte Umsiedlung von Stammesbevölkerung, um nur einige zu nennen. Auch die Eindämmung von Korruption und Bürokratie dürfte im föderalen Indien mit seinen 29 Bundesstaaten schwerfallen. Indien ist auch nach wie vor äußerst anfällig gegenüber Krisen in der Weltwirtschaft. Selbst der für dieses Jahr erwartete El Niño mit seinem schwächeren Monsun und Trockenheit wird die Wirtschaft beträchtlich beeinflussen. Doch auch gerade um diese Fragen geht es im neuen Herangehen: das Land widerstandsfähiger und stärker zu machen, äußere Einflüsse zu minimieren, um so Indien einen angemessenen Platz in der Weltgemeinschaft zu sichern.
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