17. Jahrgang | Nummer 12 | 9. Juni 2014

Denglers Fälle: von Rohwedder bis zum Geflügelkaiser

von Gabriele Muthesius

Politthriller und Krimis gehören nicht zu den Genres, die im Blättchen üblicherweise besprochen werden. Zugleich aber ist von einem ausdrücklichen Wollen der Redaktion, dergleichen grundsätzlich zu unterlassen, nichts bekannt. Doch selbst wenn dies anders wäre, würde Wolfgang Schorlau mit seinen inzwischen sieben Romanen um den Privatermittler Georg Dengler mehr als nur einen Vorwand liefern, durch eine Ausnahme die Regel erst zu einer solchen zu machen.
Dieser Dengler war eine Spitzenkraft beim Bundeskriminalamt, ein äußerst erfolgreicher Zielfahnder, bis sich ob der Eigentümlichkeiten in der Leitung dieser Behörde – samt Aufklärungsbe- beziehungsweise -verhinderung in besonders brisanten Fällen – und ob des nicht eben demokratischen Korpsgeistes vieler ihrer Mitarbeiter so viel Frust in ihm aufgestaut hatte, dass er den Dienst quittierte und als Privatdetektiv von Wiesbaden nach Stuttgart wechselte, weil dort seine Ex mit seinem Sohn ihre Zelte aufgeschlagen hat.
Apropos Aufklärungsverhinderung: Ein Fall aus Denglers frühen Berufszeiten, den der auch Jahrzehnte danach immer noch als Alptraum mit sich herumschleppt, betraf ein Sprengstoffattentat auf einen prominenten Banker. Dengler war am Tage des Geschehens aushilfsweise für einen erkranken Kollegen zum Personenschutz abgeordnet. Er saß im Führungsfahrzeug des kleinen Konvois, der den Banker schützen sollte. Dieser saß im zweiten Wagen. Ein dritter mit weiteren Bodyguards folgte. Der Konvoi geriet in eine Sprengfalle. Die explodierte allerdings nicht beim ersten Fahrzeug, sondern beim zweiten. Das erschien Dengler ominös genug, um dieser Frage nachzugehen. Doch er wurde von seinen Vorgesetzten rigoros ausgebremst. Ein Name fällt bei Schorlau in diesem Zusammenhang zwar nicht, aber dass es sich um das Attentat vom 30. November 1986 auf Alfred Herrhausen, den damaligen Chef der Deutschen Bank, handelt, das bis heute nicht aufgeklärt wurde, ist auch so offensichtlich.
Und damit sind wir auch schon zu dem Grund vorstoßen, warum eine Besprechung von Denglers Fällen durchaus ins Profil des Blättchens passt: Schorlau hat für jedes dieser Bücher einen oder auch mehrere gesellschaftliche – politische, wirtschaftliche oder auch historische – Skandale oder Verbrechen gründlich recherchiert und lässt seinen Dengler auf die eine oder andere Weise damit in Berührung kommen. Das ist dem Autor das Vehikel, um diese Fälle wieder ins Gedächtnis zu rufen, um ihre Hintergründe und dunklen Kapitel zu beleuchten, totgeschwiegene oder vertuschte Sachverhalte aufzuzeigen sowie vermutete Täter und verantwortliche Akteure, wo er sie nicht direkt namhaft macht, zumindest so zu charakterisieren, dass sie für den informierten Leser kenntlich werden. Und das alles gelingt Schorlau auf eine ausnehmend spannende und kurzweilige Art und Weise.
Das reale Geschehen selbst liegt dabei teilweise Jahrzehnte zurück – wie in „Das dunkle Schweigen“ (Denglers zweitem Fall, der sich mit den Lynchmorden „normaler“ Deutscher an abgeschossenen westalliierten Bomberpiloten während des Zweiten Weltkriegs befasst), in „Das München Komplott“ (Denglers fünftem Fall, in dem es um den Anschlag auf das Oktoberfest von 1980 geht) oder in „Die blaue Liste“ (Denglers erstem Fall, der das Wirken der Treuhandanstalt und den Mord an deren Chef, Detlev Rohwedder, im Jahre 1991 zum Gegenstand hat). Alle diese ungesühnten Verbrechen wirken, wie Schorlau deutlich macht, bis in die Gegenwart nach.
Aber auch Stoffe aus unseren Tagen greift Schorlau auf.
In „Fremde Wasser“ etwa (Deglers drittem Fall) lernt, wer es nicht schon weiß, dass dringlich öffentlicher Widerstand angeraten ist, wo immer Projekte zur Privatisierung der Trinkwasserversorgung ausgekocht werden. Profitgeleitete Privatunternehmen sind denkbar schlecht geeignet als Betreiber von Wasserwerken und Versorgungsnetzen, weil ihnen kurzfristiger Gewinn in aller Regel vor Nachhaltigkeit und Versorgungsqualität geht und sie daher vorhandene Substanz nicht selten auf Verschleiß fahren. Auch bezahlbare Wasserpreise gehören nicht zu ihrem Prioritätenkanon.
„Brennende Kälte“ (Denglers vierter Fall) breitet Erhellendes darüber aus, wie „Deutschlands Sicherheit […] auch am Hindukusch verteidigt“ wurde. De mortuis nil nisi bene – aber den Schöpfer dieses unvergesslichen Hindukusch-Bonmots beim Namen zu nennen, sollte doch gestattet bleiben: Peter Struck (SPD).
In „Die letzte Flucht“ (Denglers sechstem Fall) liefert die Pharmaindustrie das Koordinatensystem für den Plot. Unter anderem geht es um „innovative“ Krebsmedikamente, die das Leben todkranker Patienten um wenige Monate verlängern – mit Nebenwirkungen, die deren Gesamtqualen noch erheblich vergrößern. Dafür nehmen Hersteller Mondpreise, mit denen sie permanent bis zu 40 Prozent Umsatzrendite erwirtschaften. (Joseph Ackermanns 25-Prozent-Vorgabe für die Deutsche Bank war dagegen fast Peanuts.) Und führende Unternehmen der Branche tun das nachgewiesenermaßen mit einem so zynischen Marketing und einem so brutalen Lobbyismus, dass es einem den Atem verschlägt.
Und schließlich Denglers siebter Fall: „Am zwölften Tag“. Wer noch immer überlegt, vegetarische oder gar vegane Ernährung zumindest einmal auszuprobieren, dem könnte das Lesen dieses Buches den letzten Anstoß geben. Der Appetit auf Kalb, Schwein und insbesondere Pute sowie anderes Fleischliches vergeht einem jedenfalls restlos. Dafür sorgen die verbrecherischen und durchweg Ekel erregenden Seiten der industriellen Fleischproduktion – von der Massentierhaltung unter barbarischsten Bedingungen bis zur Schlachtung und Verarbeitung der gequälten Kreaturen, frühkapitalistische Ausbeutung ausländischer Billiglöhner inklusive, die Schorlau geradezu überdetailliert schildert.
Aber warum „insbesondere Pute“? Dazu lässt Schorlau seinen anonymisierten Geflügelbaron – der sagt von sich selbst, er sei weder Baron noch König, sondern: „Ich bin der Kaiser.“ – ausführen: „Die Kampagne Putenfleisch für die schlankheitsbewusste Frau war die erste große PR-Kampagne“ seiner Branche und ein voller Erfolg: Die Umsätze und Gewinne gingen in kurzer Zeit in die Höhe. Zur eigentlichen Produktion wird der Kaiser recht konkret: „Puten sind großartig. Ich liebe sie. Die Tiere, die wir jetzt verarbeiten, bestehen zu einem Drittel aus Brustfleisch. Zu einem Drittel! Damit befriedigen wir den steigenden Bedarf an fett- und kalorienarmem Fleisch für den bewussten Verbraucher. Eine Pute liefert über fünf Kilo davon. Das ist wunderbar. Ein großartiger Züchtungserfolg ist, dass die nicht verwertbaren Knochen kaum noch zehn Prozent des Putengewichts ausmachen. […] Alles ist auf einem guten Weg.“ Rein anatomisch sind die Tiere damit zwar nicht mehr in der Lage, sich auf den Füßen zu halten, aber umfallen können sie trotzdem kaum. Dazu stehen sie in den Mastställen viel zu beengt.
Der Kaiser selbst trennt daher Geschäft strikt von privat: „Ob ich Putenfleisch esse? Ich bitte Sie! Niemand aus unserem Gewerbe isst Pute. Man sagt ja, der Mensch ist, was er isst. (lacht) Das gilt natürlich auch für die Pute. Die Pute frisst Scheiße. Sie besteht zum großen Teil daraus. Verstehen Sie, was ich damit sagen will? (lacht).“ Die Tiere verbringen bei einschlägigen Massenherstellern nämlich ihr gesamtes elendes Mastleben inmitten ihrer Exkremente, die erst beseitigt werden, wenn die Tiere zur Schlachtung abgekarrt sind.
Und noch aus mindestens einem weiteren Grunde verzichtet der Kaiser auf den Genuss von Pute: „Über eines muss man sich im Klaren sein: Es gibt keine intensive Viehwirtschaft ohne Medikamenteneinsatz. In einem Stall, in dem vierzigtausend Puten oder Hühner oder Tausende Schweine oder Rinder dicht an dicht stehen, durchquert ein Erreger innerhalb einer Stunde zweimal eine komplette Mastanlage. Deshalb brauchen wir Antibiotika. […] Wer gesundes Fleisch will, muss die Tiere medikamentieren. Es gibt keine andere Lösung. […] Ohne Antibiotika sterben uns die Bestände innerhalb kürzester Zeit weg. So einfach ist das. Und deshalb setzen wir weiterhin Antibiotika ein. Wir können gar nicht anders. Basta.“
Dass mit dergleichen unternehmerischer „Ethik“ die Gewinnmaximierung im Bereich der Beschäftigten im Übrigen auf vergleichbare Weise betrieben wird, kann ernsthaft niemanden verwundern. Der Kaiser: „Schweine, Hühner und Rumänen, sag ich immer, sind die Quelle unseres Wohlstands.“ Und er erklärt auch dies genauer: „Für die Rumänen am Band bleiben […] zwei Euro, zwei Euro fünfzig oder drei Euro pro Stunde. Da das fleißige Leute sind, die zehn und mehr Stunden arbeiten, freuen die sich. Für die ist das viel Geld. Allen ist geholfen. Alle sind glücklich.
Um einen Schlüsselbeinknochen auszulösen, braucht man zwei oder drei kräftige Schnitte. Meine Personalabteilung hat es ausgerechnet: Pro Schnitt verdient eine Frau 0,0098 Euro, ein Mann 0,0131 Euro. Es ist eine harte Arbeit, ich weiß. Mit 100.000 Schnitten im Monat erhält eine rumänische Frau 980 Euro – brutto.“ Dass solches nicht ohne Schützenhilfe aus der Politik sowie des Gesetzgebers funktioniert, versteht sich. Dass Schorlau den Finger auch in diese Wunde legt, ebenfalls.
Abschließend ein Verbraucherschutzhinweis: Vorsicht – Schorlaus Bücher haben ein hohes Suchtpotenzial!
Aber die gute Nachricht ist: Dengler werden die Fälle nicht ausgehen. Ob Kooperation einer südwestdeutschen Edel-Auto-Schmiede mit dem Apartheid-Regime in Südafrika, ob die Beteiligung auch namhafter deutscher Unternehmen an diversen Nuklearprogrammen im Nahen und Mittleren Osten, ob die über Jahrzehnte gängige Korruption im Zusammenhang mit Rüstungsgroßexporten oder die Geschichte der Atomindustrie bis hin zu deren jüngstem Coup, ihre demnächst zu verschrottenden Atommeiler dem Steuerzahler andrehen zu wollen – an Stoff für wenigstens weitere sieben Fälle dürfte kein Mangel bestehen.