von Hubert Thielicke
Vor vier Jahren vereinbarten die USA und die Russische Föderation den neuen START-Vertrag über die Reduzierung ihrer nuklearen Arsenale. Aber selbst nach seiner Umsetzung werden beide Mächte über Vorräte an Kernwaffen verfügen, die jegliche „Abschreckungserfordernisse“ bei weitem überschreiten. Mehr als 15.000 nukleare Sprengköpfe lagern in den Arsenalen. Eine große Gefahr stellen auch die taktischen Kernwaffen in Europa dar. Destabilisierend wirken Waffenentwicklungen wie das im Aufbau befindliche Raketenabwehrsystem der USA und ihr Projekt Conventional Prompt Global Strike – hochpräzise konventionelle Waffen auf Interkontinentalraketen.
Beide Seiten setzen nach wie vor auf nukleare Strategien, die dem traditionellen Denken des kalten Krieges verhaftet sind. Hunderte Nuklearwaffen sind auf Ziele der anderen Seite gerichtet und bereit zum sofortigen Start. Von der vor einiger Zeit erklärten Vision einer Welt ohne Kernwaffen ist nicht mehr die Rede. Weitere nukleare Reduzierungen würden jedoch die euro-atlantische und internationale Sicherheit stärken und damit allen Staaten dienen.
Dem stehen aber beträchtliche Hindernisse entgegen. Dabei geht es auch um die sich angesichts der Ereignisse in der Ukraine verschärfende Krise zwischen dem Westen und Russland. Allerdings gab es angesichts der nuklearen Gefahr sogar während des Kalten Krieges Gespräche und Vereinbarungen über Rüstungsbegrenzung. Der aktuelle Vertrauensschwund setzte lange vor den Auseinandersetzungen in Kiew und der Ostukraine ein. Hinzu kommt, dass zu den bei Rüstungsbegrenzung und Abrüstung anstehenden Sachfragen ernste Probleme bestehen.
Präsident Barack Obama schlug zwar im vergangenen Jahr in Berlin eine beiderseitige Reduzierung der stationierten Atomstrengköpfe um ein Drittel unter das Niveau des neuen START-Vertrages vor; im US-Kongress gibt es jedoch starke Vorbehalte dagegen. Russland sieht in US-Projekten wie dem Raketenabwehrsystem, der Entwicklung weit reichender präziser konventioneller Waffensysteme und Weltraumwaffen Hindernisse für weitere Reduzierungen.
Angesichts dieser Lage fordert die vor einem Jahr etablierte trilaterale „Deep Cuts Commission“ vor allem einen energischen Dialog über Optionen, um die gegenwärtige Blockade zu überwinden. Dafür legt sie in ihrem ersten Bericht 18 detaillierte und praktische Vorschläge vor. Im Mittelpunkt stehen:
Erstens sollten Russland und die USA Verhandlungen über ein neues Reduzierungsabkommen aufnehmen. Ziel könnten Obergrenzen von 500 stationierten strategischen Trägermitteln mit insgesamt 1.000 Sprengköpfen sein. Das würde durch eine beschleunigte Erfüllung der Reduzierungsziele des neuen START-Vertrages und darüber hinaus gehende parallele Reduzierungen erleichtert.
Zweitens würde dieser Prozess gefördert durch vertrauensbildende Maßnahmen zu taktischen Kernwaffen, nuklearen Doktrinen, der Raketenabwehr, Weltraumrüstungen und hochpräzisen weit reichenden konventionellen Waffen. Vorgeschlagen wird beispielsweise ein regulärer Dialog über nukleare Doktrinen und die Schaffung eines gemeinsamen NATO-Russland-Zentrums für die Überwachung von Raketenbedrohungen und Kosmosobjekten.
Drittens sollte das Regime der konventionellen Rüstungsbegrenzung in Europa modernisiert werden. Ein erster Schritt wären Konsultationen zwischen der NATO und Russland über bedeutend niedrigere Rüstungsgrenzen.
Damit betreffen die Vorschläge einerseits das ganze Spektrum der Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland sowie in Europa. Andererseits herrscht schon seit geraumer Zeit Ruhe auf allen Gebieten. Verhandlungen finden nicht mehr statt. Änderungen sind derzeit nicht in Sicht. Umso mehr sind Mut und Voraussicht der Experten – immerhin aus Russland und zwei NATO-Mitgliedern – zu achten, die Ideen entwickeln, um der nuklearen Gefahr zu begegnen. Bleibt zu hoffen, dass sie in nächster Zeit zumindest in der Öffentlichkeit Unterstützung finden.
Eine Besonderheit der Kommission ist, dass ihr neben Experten der USA und Russlands auch solche aus Deutschland angehören. Das erklärt sich zum Einen damit, dass die Initiative zur Bildung der Kommission vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) ausgeht, hat aber zum Anderen auch einen ganz handfesten politisch-militärischen Hintergrund. Deutschland spielt nicht nur eine wichtige Rolle in der NATO, sondern ist – trotz aller gegenwärtiger Probleme – auch ein strategischer Partner Russlands. Wie im Bericht hervorgehoben wird, sollte Deutschland deshalb besonders bei solchen Fragen aktiv werden wie einem Dialog über die taktischen Kernwaffen, der Raketenabwehr und der Nukleardoktrin der NATO.
Nachdem der Bericht der Kommission bereits vor einigen Wochen in Berlin inoffiziell vorgestellt worden war, erfolgte Ende April die offizielle Präsentation in Washington. Wie Kommissionsmitglied Götz Neuneck, stellvertretender Wissenschaftlicher Direktor des IFSH kürzlich im neuen deutschland erklärte, fanden die Vorschläge dort großen Anklang unter den Rüstungskontrollexperten. Bei der New Yorker Diskussion mit Diplomaten aus Teilnehmerstaaten des Vertrages über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen (Non-proliferation Treaty – NPT) wäre der Bericht ebenfalls auf beträchtliches Interesse gestoßen. Allerdings hätten ihn Vertreter der Nuklearstaaten eher schweigend zur Kenntnis genommen. „Sie sollten ihn nun in Ruhe studieren. Es wäre ja schon gut, wenn wir damit einen Denkprozess angestoßen haben“, so Götz Neuneck. Nun sollte möglichst eine Präsentation in Moskau folgen.
Die Kommission will ihr Projekt fortsetzen, bei entsprechender Finanzierung, versteht sich. In der nächsten Phase soll es auch um die anderen „offiziellen“ Kernwaffenstaaten gehen, das heißt diejenigen, die wie die USA und Russland ebenfalls dem NPT angehören – China, Frankreich und Großbritannien. Später könnten die so genannten „faktischen“ Kernwaffenstaaten einbezogen werden – Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea.
Im nächsten Jahr steht die nächste Konferenz zur Überprüfung der Wirkungsweise des NPT bevor. Ihre Vorgängerin hatte 2010 einen Aktionsplan zur nuklearen Abrüstung angenommen, bei dessen Umsetzung bisher allerdings keine wesentlichen Fortschritte zu verzeichnen sind. Auf der Überprüfungskonferenz 2015 ist somit starke Kritik an den Kernwaffenstaaten zu erwarten. In einem solchen Umfeld könnten die Vorschläge der Deep Cuts Commission eine gewisse Rolle spielen. Immerhin übte der 2010 vorgelegte Bericht der von Australien und Japan initiierten „International Commission on Nuclear Non-proliferation and Disarmament“ erheblichen Einfluss auf das Konferenzgeschehen aus.
Der vor einem Jahr gegründeten „Deep Cuts Commission“ (Kommission für tiefe Einschnitte) gehören ehemalige Regierungsvertreter sowie wissenschaftliche Experten an, jeweils sieben aus Deutschland, Russland und den USA. Die Beratungen werden koordiniert vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), der Vereinigung für Rüstungskontrolle (Arms Control Association, USA) und dem Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaften. Unterstützt wird das Projekt vom deutschen Auswärtigen Amt sowie der Freien und Hansestadt Hamburg. Mehr über die Kommission: www.deepcuts.org
Schlagwörter: Abrüstung, Deep Cuts Commission, Hubert Thielicke, Rüstungskontrolle