17. Jahrgang | Nummer 5 | 3. März 2014

Sichtweisen

von Sigurd Schulze

Im Foyer der Berliner Philharmonie wird eine Ausstellung gezeigt: „Szymon Goldberg: Geiger, Dirigent, Pädagoge“. Kurator Helge Grünewald hat sie mit größter Sorgfalt aus Quellen von vier Kontinenten zusammengetragen, Annette Heilfurth und Saskia van de Calseijde haben sie exzellent gestaltet. Der Besucher wird gefesselt von einer Fülle von Fotos, unter denen Porträts von Szymon Goldberg die Blicke anziehen –  insbesondere die Augen dieses Mannes: klar, freundlich, nachdenklich, müde, traurig.
Diese Ausstellung ist eine Sensation aus mehreren Gründen. Eigentlich ist es ein Unbekannter, der hier vorgestellt wird. Fast auf den Tag vor 80 Jahren hatte Goldberg mit seiner Frau Maria Deutschland verlassen, um einer Verhaftung durch die Gestapo zu entgehen. Damals 24 Jahre alt, war er im deutschen Musikleben eine Größe. Bereits mit 16 Jahren wurde er Erster Konzertmeister der Dresdner Philharmonie. Seit 1930 war er Erster Konzertmeister des Berliner Philharmonischen Orchesters unter Wilhelm Furtwängler und nach dessen Urteil „der beste Konzertmeister in Europa überhaupt.“ Goldberg führte in Dresden und Berlin Streichquartette, mit Paul Hindemith und Emanuel Feuermann bildete er ein berühmtes Streichtrio, von dem Platten aufgenommen wurden, die noch heute Bewunderung wecken.
Nach ihrer Flucht lebten die Goldbergs in Italien, England, Holland und Belgien. 1942 wurden sie auf einer Konzertreise auf Java von den japanischen Verbündeten der Nazis interniert. Nach der Befreiung 1945 fasste Goldberg in den USA Fuß, als Solist, Kammermusiker und Hochschullehrer. Von 1955 bis 1977 leitete er das Niederländische Kammerorchester. Nach dem Tode seiner Frau Maria 1985 ging er mit der Pianistin Miyoko Yamane nach Japan, wo er als hochgeschätzter Dirigent und Pädagoge 1993 starb.
Bemerkenswert ist das Zustandekommen dieser Ausstellung selbst. Den Anstoß gab der Dresdner Kammervirtuos Volker Karp. Bereits seit seiner Jugend vertiefte er sich in die Kunst des Geigenspiels großer Meister. Er sammelte alles, was er von Szymon Goldberg  bekommen konnte. Wie ein Wink des Schicksals erschien es ihm, dass er bei einem Gastspiel der Dresdner Philharmonie in Tokio Goldbergs Witwe Miyoko Yamane-Goldberg  kennenlernen konnte. Von ihr erhielt er wunderbare Film- und Tonaufnahmen sowie Fotos ihres Mannes. Dies war der Fundus, aus dem Karp im Jahre 2009 zum 100. Geburtstag des Künstlers eine Ausstellung im Carl-Maria-von-Weber-Museum in Dresden-Hosterwitz gestaltete. Die Berliner Philharmoniker, die den 100. Geburtstag ihres ehemaligen Konzertmeisters vergessen hatten, wurden aufmerksam und brachten nun ihre Ausstellung heraus. Einen wichtigen Bestandteil lieferten Exponate aus Volker Karps Sammlung.
Es sind Juwelen, die dort zu sehen sind, zum Beispiel eine Kohle-Zeichnung des Pressezeichners David Friedmann vom fünfzehnjährigen Goldberg aus dem Jahre 1924 oder ein Film von 1931, in dem Bruno Walter die Berliner Philharmoniker dirigiert. Konzertmeister: Szymon Goldberg. In Videos erzählt der betagte Goldberg von Begegnungen mit Wanda Landowska und Paul Hindemith. Von Landowska hat er gelernt: „Der Ton muß schlank sein, aber nicht mager.“
Entsetzlich ist das Faksimile einer Mitteilung vom 2. Juni 1964 an den Berliner Senat, in welchem der Intendant des Berliner Philharmonischen Orchesters, Wolfgang Stresemann, die Wiedereinstellung Goldbergs als Ersten Konzertmeister trotz Anordnung der Wiedergutmachungsbehörde endgültig ablehnt.

Die Goldberg – Affäre

Zweifellos ist es ein Fortschritt, dass nun die beschämende Verweigerung der Wiedereinstellung, die Goldberg 1955 auf der Grundlage des Wiedergutmachungsgesetzes beantragt hatte, offengelegt wird. In Misha Asters Buch „Das Reichsorchester“ von 2007, das die Geschichte des Orchesters in der Nazizeit „aufarbeiten“ sollte, blieb die Affäre völlig ausgespart, während die Wiedereinstellung des ebenfalls emigrierten Konzertmeisters Hugo Kolberg für die Jahre 1958 bis 1963 erwähnt wurde. Als der Autor dieser Zeilen im vergangenen Jahres in junge welt über die Affäre berichtete, fielen die Experten aus allen Wolken.
Man hatte es Goldberg bereits schwer gemacht, als er 1955 für seinen Antrag einen Beschäftigungsnachweis brauchte. Es waren keine Unterlagen da. 1959 bezeugten endlich einige Orchestermitglieder, dass er bis 1934 Erster Konzertmeister und in Berlin ansässig gewesen war. Die Entscheidung des Intendanten ist das eine. Was aber geschah hinter den Kulissen? Wie stellten sich der künstlerische Oberleiter Herbert von Karajan und der Orchestervorstand, auf die Stresemann sich berief, zu Goldberg? War Goldberg politisch unbequem? Warum wurde Goldberg nicht die Stelle Kolbergs angeboten, obwohl man wusste, dass jener 1963 in Pension gehen würde?
Wir wissen nicht, was Szymon Goldberg über die Abweisung dachte und fühlte. Die Korrespondenz mit seinem Anwalt Dr. Kurt Landsberger existiert nicht mehr. Ein einziges Mal noch gastierte Goldberg 1978 mit dem Pianisten Stefan Askenase in Berlin, wie die Berliner Morgenpost schreibt. Doch er kehrte nicht nach Deutschland zurück. Musiker erzählen, er habe, wenn er zu Konzerten durch deutsches Territorium fuhr, die Vorhänge seines Abteils zugezogen. So wurde ein Großer dem deutschen Musikleben geraubt.
Die Entschädigungsakte sagt einiges über die Entscheidungsfindung des Berliner Senats. Interne Vorgänge des Berliner Philharmonischen Orchesters enthält sie nicht. Es stellt sich die Frage, ob im Archiv der Philharmonie, im Landesarchiv und in Nachlässen bereits alle  Quellen erschlossen wurden, um Licht in die Sache zu bringen.

Abschied und Sichtweisen

Eine Tafel der Ausstellung konstatiert „unterschiedliche Sichtweisen zu Goldbergs Weggang“. Aster meint in seinem Buch: „Goldberg reiste offenbar ziemlich hastig ab“, und nennt es einen „überstürzten Abschied“. In der Entschädigungsakte steht: „Im Sommer 1934 fluchtartig ausgewandert.“ Ein Beamter notierte 1961, dass Goldberg „tatsächlich 1934 seine Tätigkeit beim Berliner Philharmonischen Orchester aus Verfolgungsgründen beenden musste“ Und Stresemann: „Er hat 1934 Berlin verlassen, da er sich aus rassischen Gründen hier nicht mehr halten konnte.“ Eine eigenartige Sicht.
„Sichtweisen“ werden dokumentiert. Zunächst ein Brief Wilhelm Furtwänglers vom 25. Juni 1934 an Carl Flesch: „Goldberg hat sich leider nicht von seiner Absicht zu demissionieren abbringen lassen. Ich bedaure dies außerordentlich und kann es auch bei aller Würdigung für Goldbergs Gründe nicht für richtig finden, dass er die Sache verläßt, der ich meine Kraft widme, nämlich, dem deutschen Musikleben hochwertige Leistungen und Qualität zu erhalten.“ Furtwängler verließ 1934 nach einem öffentlichen Streit mit Joseph Goebbels selbst „die Sache“, kehrte aber 1935 zurück und diente „ihr“ bis 1945.
Goldberg selbst berichtete 1955 in einer Eidesstattlichen Erklärung: „Als Volljude und Pole war ich mir dessen bewusst, dass ich in Deutschland unter Hitler nichts Gutes zu erwarten hätte und nahm meinerseits die Initiative, um meinen Vertrag mit den Berliner Philharmonikern zu lösen. Furtwängler wollte mich nicht gehen lassen und versuchte, mich unter allerlei Zusagen im Orchester zu halten. U.a. wurde mir zugesichert, dass ich in Konzerten, die von Hitler besucht wurden, nicht zu spielen brauchte. Im Widerspruch zu dieser Abmachung geschah es, dass mir von der Anwesenheit von Hitler […] nicht rechtzeitig Mitteilung gemacht wurde, sodass ich gezwungen war, doch vor Hitler aufzutreten. Dies sowohl wie ein Vorfall, den meine Frau, Maria Goldberg, mit der Gestapo hatte und der sie beinahe ins Konzentrationslager gebracht hätte, waren für mich Veranlassung, um nicht erst meine Entlassung und die Internierung meiner Frau und von mir abzuwarten, sondern meinerseits meine Tätigkeit zu beenden. Hierbei wurden mir Schwierigkeiten gemacht und Druck auf mich ausgeübt, um doch noch zu bleiben, u.a. gedroht, dass man mir ein Ausreisevisum verweigern würde. Auch hat man von mir verlangt, dass ich im Widerspruch mit der Wahrheit in einer Pressekonferenz gegenüber amerikanischen Journalisten eine Erklärung abgäbe, des Inhalts, dass ich freiwillig das Orchester verliesse, da ich meine umfangreiche Solistentätigkeit nicht mit der Funktion eines Konzertmeisters vereinigen könnte. Die Wahrheit war natürlich, dass die Zustände in Deutschland unter Hitler für mich unerträglich geworden waren, vor allem dass ich mir von der Zukunft in Deutschland eine Vorstellung machte, die die spätere Entwicklung leider nur zu sehr bestätigt hat. Ich habe deshalb im Jahre 1934 mit meiner Frau Deutschland […] Hals über Kopf verlassen.“ Dies mag auch die Legende eines Interviewten im Film „Das Reichsorchester“ beantworten, dass die Musiker des Philharmonischen Orchesters „natürlich“ unter der Naziägide mitmachen mussten, weil sie unter dem besten Dirigenten spielen wollten. Das hätten die Juden unter ihnen auch gern gewollt, natürlich ohne Naziherrschaft. Oder die „Theorie“, Goldberg und der Solocellist Nicolai Graudan wären sowieso nicht lange geblieben und hätten die Karriere in der Welt gesucht.
In der Berliner Morgenpost glaubt Volker Blech, einen Widerspruch bei Goldberg zu finden, indem er vermerkt, Goldberg habe bei der Eröffnung der Reichsmusikkammer am 15. November 1933 vor Joseph Goebbels gespielt. Ein Opportunist also? Das eben waren die Zustände in Deutschland, die Goldberg das Bleiben unmöglich machten. Blech meint, Goldberg habe gekündigt – was Goldbergs Anspruch auf Wiederanstellung hätte in Frage stellen können. Dafür gibt es keinen Beweis, weil sich eben in den Akten der Berliner Philharmoniker gar nichts über Goldbergs Ausscheiden findet. Der Wiedergutmachungsbescheid vom 14. April 1964 geht zwar „von der Auflösung seines Vertrages“ im Jahre 1934 aus, aber auch darüber findet sich in der Entschädigungsakte kein Beleg. Wie Goldberg erklärte, wollte er seinen Vertrag lösen, Furtwängler wollte ihn nicht gehen lassen, es wurden ihm Schwierigkeiten gemacht und so weiter. Fakt ist, dass Goldberg seine Tätigkeit beendete, indem er nach dem Vorfall mit der Gestapo Deutschland „Hals über Kopf“ verließ. Eine förmliche Lösung seines Vertrages ist nicht dokumentiert. Wer die Rolle der Gestapo kennt, begreift, dass Goldberg vor allem die Sorge hatte wegzukommen, statt alle Formalitäten zu erledigen. Richtig ist, dass Goldberg 1970 für seinen Einkommensausfall von Mai 1934 bis zum Stichtag 31.12.1953 entschädigt wurde. Nicht entschädigt aber wurde er für den Verlust des Arbeitsplatzes. Dort bricht nach dem Bescheid, er sei wiedereinzustellen, die Akte ab.

Offene Fragen

Im Falle Goldberg gibt es viele offene Fragen, die auch die Ausstellung noch nicht beantworten kann. Memoiren oder Tagebücher sind von ihm nicht bekannt. Die Gestapoakten wurden vernichtet. Hoffnung macht aber die Biographie Szymon Goldbergs, verfasst von Miyoko Yamana-Goldberg, erschienen 2009 in Japan und bisher in keine andere Sprache übersetzt. Das ausgestellte Inhaltsverzeichnis lässt ahnen, dass noch vieles bekannt werden wird. Wir erfahren nichts weiteres, solange wir keine Übersetzung der Biographie haben. Wer aber fühlt sich in Deutschland verantwortlich, das Buch in deutscher Sprache herauszugeben?
Wie Wolfgang Hentrich, Erster Konzertmeister der Dresdner Philharmonie, die sich ebenfalls dem Erbe Goldbergs verpflichtet fühlt, weiß, ist in Tokio unter Leitung von Professor Kazuki Sawa ein Szymon-Goldberg-Archiv im Aufbau. Die Familie der verstorbenen Miyoko Goldberg stellt den Nachlaß Goldbergs zur Verfügung. Die Forschung kann auch da neues Wissen erschließen.

Der Autor ist Journalist und lebt in Berlin.