16. Jahrgang | Sonderausgabe | 16. Dezember 2013

Die Psychologie der Massen
(Auszüge)

von Gustave Le Bon

Zweites Buch. […] 2. Kapitel.

[…]

II. Die Täuschungen (illusions)

Seit der Morgenröte der Kultur sind die Völker immer dem Einfluss von Täuschungen ausgesetzt gewesen. Den Schöp­fern von Täuschungen haben sie die meisten Tempel, Bild­werke und Altäre errichtet. Früher waren es religiöse, heute sind es philosophische Täuschungen – aber immer findet man diese furchtbaren Herrscherinnen an der Spitze aller Kulturen, die nacheinander auf unserm Planeten blühten. In ihrem Namen stiegen die Tempel Chaldäas und Ägyptens, die Kirchenbauten des Mittelalters empor, in ihrem Namen wurde ganz Europa vor einem Jahrhundert umgewälzt. Es gibt nicht eine einzige unserer künstlerischen, politischen oder sozialen Anschauungen, die nicht ihren mächtigen Stempel trüge. Oft schüttelt sie der Mensch um den Preis furchtbarer Umwälzungen ab, aber er scheint dazu ver­dammt zu sein, sie immer wieder aufzurichten. Ohne sie hätte er die primitive Barbarei nicht hinter sich lassen kön­nen, und ohne sie würde er ihr bald wieder verfallen. Zwei­fellos sind es leere Schatten, aber diese Töchter unserer Träume haben die Völker gezwungen, all das zu schaffen, was den Glanz der Künste und die Größe der Kultur aus­macht.
„Wenn man alle Kunstwerke und Denkmäler in den Mu­seen und Bibliotheken, die dem Einfluss der Religion ihr Dasein verdanken, zerstören und auf den Steinen ihrer Vor­höfe zertrümmern könnte, was bliebe von den großen Träu­men der Menschheit übrig?“, schreibt ein Autor, der die Summe unseres Wissens zieht. „Die Daseinsberechtigung der Götter, Helden und Dichter besteht darin, den Men­schen ihren Anteil an Hoffnungen und Täuschungen zu ge­ben, ohne die sie nicht leben können. Eine Zeitlang schien die Wissenschaft diese Aufgabe zu übernehmen. Sie hat sich aber bei den idealhungrigen Gemütern um ihr Ansehen gebracht, weil sie nicht mehr genug zu versprechen wagt, und nicht genug zu lügen weiß.“
Die Philosophen des vergangenen Jahrhunderts widmeten sich mit Eifer der Zerstörung der religiösen, politischen und sozialen Täuschungen, von denen unsere Väter viele Jahrhunderte lang gelebt hatten. Diese Zerstörung ließ die Quel­len der Hoffnung und Ergebung versiegen. Hinter den geop­ferten Chimären fanden sie die blinden Naturkräfte, die un­erbittlich sind gegen Schwäche und kein Mitleid kennen.
Trotz all ihrer Fortschritte hat die Philosophie nicht ver­mocht, den Massen ein Ideal zu bieten, das sie bezaubern könnte. Da ihnen aber Täuschungen unentbehrlich sind, so wenden sie sich unwillkürlich, wie die Motte dem Licht, den Rednern zu, die sie ihnen bieten. Die große Triebkraft der Völkerentwicklung war niemals die Wahrheit, sondern der Irrtum. Und wenn heute der Sozialismus seine Macht wachsen sieht, so erklärt es sich daraus, dass er die einzige Täuschung darstellt, die noch lebendig ist. Wissenschaftli­che Beweisführungen können seine Entwicklung nicht auf­halten. Seine Hauptstärke liegt darin, dass er von Köpfen verteidigt wird, die die Tatsachen der Wirklichkeit genü­gend verkennen, um es zu wagen, den Menschen kühn das Glück zu versprechen. Die soziale Täuschung herrscht heu­te auf allen Ruinen, die die Vergangenheit auftürmte, und ihr gehört die Zukunft. Nie haben die Massen nach Wahr­heit gedürstet. Von den Tatsachen, die ihnen missfallen, wenden sie sich ab und ziehen es vor, den Irrtum zu vergöt­tern, wenn er sie zu verführen vermag. Wer sie zu täuschen versteht, wird leicht ihr Herr, wer sie aufzuklären sucht, stets ihr Opfer.

III. Die Erfahrung

Die Erfahrung ist so ziemlich das einzige wirksame Mittel, um der Massenseele eine Wahrheit fest einzupflanzen und zu gefährlich gewordene Täuschungen zu zerstören. Dazu muss die Erfahrung auf einer breiten Grundlage ruhen und oft wiederholt werden. Die von einer Generation gesammel­ten Erfahrungen sind im Allgemeinen für die folgende nutz­los, darum hat es keinen Zweck, geschichtliche Ereignisse als Beweise anzuführen. Ihr einziger Nutzen ist, dass sie zeigt, in welchem Maße die Erfahrungen in jedem Zeitalter wiederholt werden müssen, um irgendwelchen Einfluss zu gewinnen und den Erfolg zu haben, auch nur einen Irrtum, der mit der Massenseele verwachsen ist, auszurotten.
Unser Jahrhundert und das vorhergehende werden von den Historikern der Zukunft zweifellos als eine Zeit merkwürdi­ger Erfahrungen bezeichnet werden. Kein anderes Zeitalter hat so viele aufzuweisen.
Die gewaltigste Erfahrung war die Französische Revoluti­on. Um zu entdecken, dass man eine Gesellschaft nicht mit den Mitteln der reinen Vernunft von Grund auf erneuern kann, mussten einige Millionen Menschen hingeschlachtet und ganz Europa zwanzig Jahre lang erschüttert werden. Um uns durch die Erfahrung zu beweisen, dass Cäsaren den Völkern, die ihnen zujauchzen, teuer zu stehen kommen, waren innerhalb fünfzig Jahren zwei vernichtende Erfah­rungen nötig, die trotz ihrer Verständlichkeit nicht überzeu­gend genug gewesen zu sein scheinen. Gleichwohl kostete die erste drei Millionen Menschen und einen feindlichen Einmarsch, die zweite eine Zerreißung des Landes und die Notwendigkeit stehender Heere. Eine dritte wäre beinahe vor kurzem gemacht worden und wird eines Tages sicher­lich gemacht werden. Um uns zu beweisen, dass das riesige deutsche Heer nicht, wie man uns vor 1870 lehrte, eine Art harmloser Nationalgarde ist, war der schreckliche Krieg nötig, der uns so viel gekostet hat. Um zu der Erkenntnis zu kommen, dass das Schutzzollsystem die Völker, die es an­wenden, endgültig zugrunde richtet, werden noch unheil­volle Erfahrungen nötig sein. Diese Beispiele ließen sich ins Unendliche vermehren.

[…]

Drittes Buch. […] 4. Kapitel.

Die Wählermassen

Die Wählermassen, d. h. die Gesamtheiten, die zur Wahl der Inhaber gewisser Ämter berufen sind, bilden ungleich­artige Massen; da sie aber nur in einer ganz bestimmten Frage ihre Wirksamkeit entfalten, nämlich bei der Wahl zwischen mehreren Kandidaten, so lassen sich bei ihnen nur einige der früher beschriebenen Merkmale beobachten. Be­sonders hervorragend ist die geringe Urteilsfähigkeit, dann der Mangel an kritischem Denken, die Erregbarkeit, Leicht­gläubigkeit und Einfalt der Massen. Auch entdeckt man in ihren Entscheidungen den Einfluss der Führer und die Wir­kung der bereits angeführten Triebkräfte: Behauptung, Wie­derholung, Nimbus und Übertragung.
Sehen wir nun zu, wie sie zu gewinnen sind. Ihre Psycholo­gie lässt sich nach bewährter Methode klar ableiten.
Als erste Eigenschaft muss der Bewerber einen Nimbus ha­ben. Persönlicher Nimbus kann nur durch Reichtum ersetzt werden. Talent und selbst Genie sind keine Vorbedingungen für den Erfolg.
Folglich ist der persönliche Nimbus des Bewerbers, um sich ohne weitere Erörterungen durchsetzen zu können, von aus­schlaggebender Bedeutung. Dass die Wähler, die in der Mehrzahl aus Arbeitern und Bauern bestehen, so selten ei­nen ihrer Leute als Vertreter wählen, erklärt sich daraus, dass ihre Standesgenossen keinen Nimbus bei ihnen haben. Sie wählen einen ihresgleichen fast nur aus nebensächli­chen Gründen, etwa um einen hochgestellten Manne, einem mächtigen Arbeitgeber entgegenzutreten, weil der Wähler Tag für Tag die Abhängigkeit von diesem empfindet und sich so einbildet, einen Augenblick seiner Herr zu sein.
Aber der Besitz des Nimbus genügt für den Bewerber nicht zur Sicherung des Erfolges. Der Wähler hält darauf, dass man seinen Begierden und Eitelkeiten schmeichelt. Der Kandidat muss übertriebene Schmeicheleien anwenden und darf kein Bedenken tragen, die phantastischsten Verspre­chungen zu machen. Vor Arbeitern kann man ihre Arbeitge­ber nicht genug beleidigen und schmähen. Den gegneri­schen Bewerber wiederum muss man zu vernichten suchen, indem man durch Behauptung, Wiederholung und Übertra­gung zu beweisen sucht, er sei der ärgste Schuft, von dem jeder wisse, dass er etliche Verbrechen begangen habe. Selbstredend ist es unnötig, etwas vorbringen zu wollen, was einem Beweis ähnelt. Ist der Gegner ein schlechter Kenner der Massenpsychologie, so wird er sich durch Be­weise zu rechtfertigen suchen, anstatt auf verleumderische Behauptungen einfach mit ändern ebenso verleumderischen zu antworten, und wird dann keine Aussicht auf Sieg haben.
Das geschriebene Programm des Kandidaten darf nicht sehr entschieden sein, weil seine Gegner es ihm später entgegen­halten könnten, aber sein mündliches Programm kann nicht übertrieben genug sein. Die außerordentlichsten Reformen dürfen in Aussicht gestellt werden. Für den Augenblick er­zielen diese Übertreibungen große Wirkung und für die Zu­kunft verpflichten sie zu nichts. Der Wähler kümmert sich später tatsächlich nie darum, ob der Gewählte sein Glau­bensbekenntnis, dem man begeistert zustimmte und das an­geblich die Voraussetzung für das Zustandekommen der Wahl war, auch wirklich befolgt hat.
Wir erkennen hier alle Mittel der Überredung wieder, die oben beschrieben wurden. Wir werden sie auch in der Wir­kung der Worte und Redewendungen wieder finden, auf de­ren mächtige Herrschaft wir bereits hingewiesen haben. Der Redner, der die Massen zu behandeln weiß, führt sie nach Belieben. Ausdrücke wie: der verderbliche Kapitalismus, die gemeinen Ausbeuter, der bewundernswerte Arbeiter, die Sozialisierung der Besitztümer u. a. rufen stets die gleiche, schon etwas verbrauchte Wirkung hervor. Der Bewerber aber, der eine neue Redewendung entdeckt, die jeder be­stimmten Bedeutung ermangelt und sich daher den ver­schiedensten Wünschen anzupassen vermag, erzielt unfehl­bar Erfolg. Die blutige spanische Revolution von 1873 kam durch eins jener magischen, vieldeutigen Worte zustande, das jeder nach seiner Weise deuten kann. Ein zeitgenössi­scher Autor hat über ihre Entstehung in so denkwürdiger Weise berichtet, dass sie wiedergegeben zu werden ver­dient:
„Die Radikalen hatten entdeckt, dass eine einheitliche Re­publik eine verkappte Monarchie sei, und ihnen zu Gefallen hatten die Cortes einstimmig die verbündete Republik aus­gerufen, ohne dass auch nur einer der Abstimmenden hätte sagen können, worüber abgestimmt wurde. Aber diese Re­dewendung bezauberte die Welt, man war wie im Rausch, im Delirium. Die Herrschaft der Tugend und des Glücks war auf Erden gegründet worden. Ein Republikaner, dem von seinem Feind die Bezeichnung eines Verbündeten ver­sagt wurde, fühlte sich durch einen tödlichen Schimpf be­leidigt. Auf den Straßen ging man mit den Worten: ;Salud y republica federal!‘ (,Es lebe die verbündete Republik!‘) auf­einander zu. Dann stimmte man der heiligen Zuchtlosigkeit und Selbstherrlichkeit der Soldaten Lobeshymnen an. Was war die ,verbündete Republik‘? Die einen verstanden da­runter die Gleichberechtigung der Provinzen, Einrichtungen nach dem Muster der Vereinigten Staaten oder Aufhebung der einheitlichen Verwaltung, andre wieder dachten an die Beseitigung aller Obrigkeit, den baldigen Beginn der gro­ßen sozialen Abrechnung.
Die Sozialisten in Barcelona und Andalusien predigten die unumschränkte Selbständigkeit der Gemeinden und forder­ten die Bildung von zehntausend unabhängigen Gemeinden in Spanien, die sich selbst ihre Gesetze geben und gleich­zeitig Polizei und Heer aufheben würden. Bald sah man, dass sich der Aufstand in den südlichen Provinzen von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf ausbreitete. Sobald eine Gemeinde ihr ,pronunciamento‘ erlassen hatte, war ihre ers­te Sorge, Telegraphen und Eisenbahnen zu zerstören, um al le Verbindungen mit der Umgegend und mit Madrid abzu­schneiden. Der elendste Flecken wollte in seiner eigenen Küche kochen. Der Föderalismus hatte einem rohen, mord­brennerischen und mörderischen Kantonalismus Platz ge­macht, und überall wurden blutige Saturnalien gefeiert.“
Was den Einfluss der logischen Beweisgründe auf den Geist der Wähler anbelangt, so dürfte man nie den Bericht über eine Wahlversammlung gelesen haben, um nicht darüber im klaren zu sein. Man tauscht dort Behauptungen, Beschimp­fungen, manchmal auch Püffe aus, doch niemals Gründe. Es wird nur dann einen Augenblick ruhig, wenn ein würdiger Teilnehmer umständlich ankündigt, dass er an den Kandida­ten eine jener verwickelten Fragen richten wolle, die die Zuhörer immer sehr belustigen. Die Zufriedenheit der Geg­ner dauert aber nicht lange, denn die Stimme des Vorred­ners wird bald von dem Geheul seiner Widersacher über­tönt. Als Schilderung der Grandform öffentlicher Versamm­lungen sind folgende Berichte anzusehen, die aus hunderten ähnlicher herausgegriffen, den Tageszeitungen entnommen sind: „Nachdem ein Ordner die Anwesenden ersucht hat, ei­nen Vorsitzenden zu wählen, bricht der Sturm los. Die Anarchisten stürzen auf den Schauplatz, um sich des Red­nerpultes im Sturm zu bemächtigen. Die Sozialisten vertei­digen ihn energisch, man stößt einander, schimpft sich ge­genseitig Spion, Bestochener und dergleichen […] ein Bürger zieht sich mit einem blauen Auge zurück. Endlich ist mitten im Tumult, so gut es geht, der geschäftsführende Ausschuss eröffnet, und die Rednerbühne bleibt dem Genossen X.
Der Redner geht in scharfem Zug gegen die Sozialisten los, die ihn unterbrechen und schreien: ,Trottel, Bandit, Schur­ke!‘ usw. Genösse X beantwortet diese Schimpfnamen durch Darlegung einer Theorie, wonach die Sozialisten ,Idioten‘ oder ;Possenreißer‘ sind.“
„Die Allemanistische Partei hatte gestern Abend im Saale der Kaufmannschaft, in der Rue Faubourg-du-Temple, eine große Versammlung für das Fest der Arbeiterschaft am 1. Mai einberufen […] Das Losungswort war: Stille und Ruhe. Genösse G […] bezeichnet die Sozialisten als ,Trottel‘ und ,Schwindler‘.
Diese Worte veranlassen Redner und Zuhörer zu schimpfen, sie geraten ins Handgemenge; Stühle, Bänke, Tische spielen ihre Rolle usw. usw.“
Man glaube ja nicht, diese Art der Auseinandersetzung sei nur einer bestimmten Art von Wählern eigen und abhängig von ihrer gesellschaftlichen Stellung. In jeder beliebigen Versammlung, und bestünde sie auch nur aus akademisch Gebildeten, nimmt die Auseinandersetzung leicht dieselben Formen an. Ich habe gezeigt, dass die Menschen als Glieder der Masse zur geistigen Angleichung neigen, dafür werden wir jederzeit den Beweis finden. Als Beleg diene folgender Auszug aus einem Bericht über eine Versammlung, die aus­schließlich aus Studenten bestand:
„Je weiter der Abend vorschritt, umso heftiger wurde der Tumult. Ich glaube nicht, dass ein einziger Redner zwei Sätze ohne Unterbrechung vorbringen konnte. Fortwährend ertönten Rufe von der einen oder anderen Seite oder von al­len Seiten zugleich; man klatschte Beifall, man pfiff; erreg­te Auseinandersetzungen entspannen sich zwischen ver­schiedenen Anwesenden, Stöcke wurden drohend ge­schwungen, man stampfte im Takt auf den Boden. Wüstes Geschrei verfolgte die Störenfriede: Hinaus! Auf die Tribüne!
Herr C […] überschüttet die Vereinigung mit niederträchtigen und gehässigen Beiwörtern wie: ungeheuerlich, gemein, käuflich und rachsüchtig und erklärt, er wolle sie vernichten usw.“
Man könnte sich fragen, wie sich unter solchen Bedingun­gen die Meinung eines Wählers bilden kann? Aber um eine derartige Frage zu stellen, müsste man sich einer erstaunli­chen Täuschung über den Grad von Freiheit hingeben, des­sen sich eine Gesamtheit erfreut. Die Massen haben nur ein­geflößte, nie vernünftige Meinungen. Diese Meinungen und Abstimmungen der Wähler liegen in den Händen der Wahl­ausschüsse, deren Führer meistens einige Schankwirte sind, die großen Einfluss auf die Arbeiter haben, denen sie Kredit gewähren. „Wissen Sie, was ein Wahlausschuss ist?“ schreibt Scherer, einer der eifrigsten Verteidiger der Demo­kratie, „ganz einfach der Schlüssel zu unsren Einrichtun­gen, das Hauptstück der politischen Maschinerie. Frank­reich wird heute von den Ausschüssen regiert.“
Es ist denn auch nicht allzu schwer, die zu beeinflussen, wenn der Bewerber nur einigermaßen annehmbar ist und über genügende Mittel verfügt. Nach dem Eingeständnis der Geldgeber genügten drei Millionen, um die vielfache Wahl des General Boulanger durchzusetzen. Das ist die Psychologie der Wählermassen. Sie ist die gleiche wie die der andern Massen. Weder besser noch schlechter.
Ich will denn auch aus dem Vorstehenden keinen Schluss gegen das allgemeine Stimmrecht ziehen. Hätte ich über sein Geschick zu entscheiden, so würde ich es so beibehal­ten, wie es ist, und zwar aus praktischen Gründen, die sich eben aus unsrer Untersuchung über die Psychologie der Massen ergeben, und die ich auseinandersetzen werde, wenn ich erst an seine Nachteile erinnert habe.
Die Nachteile des allgemeinen Stimmrechts fallen ohne Zweifel zu sehr in die Augen, als dass man sie verkennen könnte. Es ist nicht in Abrede zu stellen, dass die Kulturen das Werk einer kleinen Minderheit überlegener Geister ge­wesen sind; diese bilden die Spitze einer Pyramide, deren Stufen nach unten gemäß der Abnahme des geistigen Wer­tes breiter werden und die tieferen Schichten eines Volkes darstellen. Die Größe einer Kultur darf gewiss nicht von dem Stimmrecht untergeordneter Elemente abhängen, die nichts als eine Zahl bedeuten. Ohne Zweifel sind die Ab­stimmungen der Massen recht oft gefährlich. Sie haben uns bereits mehrere Invasionen gekostet, und mit dem Triumph des Sozialismus werden uns die Einfälle der Volksherr­schaft gewiss noch viel teurer zu stehen kommen.
Aber diese Einwände, die theoretisch tadellos sind, büßen für die Praxis jede Kraft ein, wenn man sich der unüber­windlichen Macht der Ideen erinnert, die in Glaubenssätze umgewandelt wurden. Der Glaubenssatz von der Herrschaft der Massen ist vom philosophischen Standpunkt ebenso wenig zu verfechten wie die religiösen Glaubenssätze des Mittelalters, aber er hat heute die unumschränkte Macht. Daher ist er ebenso unangreifbar wie einst unsere religiösen Ideen. Man stelle sich einen modernen Freidenker vor, der durch eine magische Gewalt ins tiefste Mittelalter versetzt würde. Glaubt man etwa, er würde, wenn er die unum­schränkte Macht der religiösen Ideen, die damals herrsch ten, erkannt hätte, versucht haben, sie zu bekämpfen? Hätte er daran gedacht, die Existenz des Teufels und den Hexen­sabbat zu leugnen, wenn er in die Hände eines Richters ge­fallen wäre, der ihn unter der Anschuldigung, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und den Hexensabbat besucht zu haben, verbrennen lassen wollte? Gegen die Überzeu­gungen der Masse streitet man ebenso wenig wie gegen Zy­klone. Der Glaubenssatz des allgemeinen Stimmrechts hat heute die Macht, die einst die Lehren des Christentums be­saßen. Redner und Schriftsteller sprechen darüber mit einer Achtung und mit Schmeicheleien, die Ludwig XIV. nicht kennen gelernt hat. Man muss ihm dieselbe Beachtung schenken wie allen religiösen Dogmen. Die Zeit allein wirkt auf sie.
Es wäre übrigens umso zweckloser, diese Lehre erschüttern zu wollen, als sie offensichtliche Gründe für sich hat. „In Zeiten der Gleichheit“, sagt Tocqueville treffend, „traut ei­ner dem ändern nicht, weil alle einander ähnlich sind; aber gerade diese Ähnlichkeit gibt ihnen ein fast unbegrenztes Vertrauen in das Urteil der Allgemeinheit. Denn es er­scheint nicht wahrscheinlich, dass, da alle die gleiche Ein­sicht haben, die Wahrheit nicht auf der Seite der größten Zahl zu finden sein soll.“
Darf man nun annehmen, die Abstimmungen der Massen würden durch die Beschränkung des Stimmrechts auf die Fähigen – wenn man will – eine Besserung erfahren? Ich kann es keinen Augenblick annehmen, und zwar aus Grün­den, die ich oben bereits angeführt habe und die in der geis­tigen Bedeutungslosigkeit aller Gesamtheiten liegen, wie sie auch immer zusammengesetzt sein mögen. Ich wieder­hole: in der Masse gleichen sich die Menschen stets einander an, und die Abstimmung von vierzig Akademikern über allgemeine Fragen gilt nicht mehr als die von vierzig Was­serträgern. Ich bin ganz und gar überzeugt, dass keine der Abstimmungen, die dem allgemeinen Stimmrecht so oft vorgehalten werden, wie etwa die Erneuerung des Kaiser­tums anders ausgefallen wäre, wenn man die Abstimmen­den ausschließlich aus dem Kreise der Gelehrten und Gebil­deten genommen hätte. Man erwirbt durch die Kenntnis des Griechischen oder der Mathematik, dadurch, dass man Ar­chitekt, Tierarzt, Arzt oder Advokat ist, keine besondere Einsicht in Fragen des Gefühls. Alle unsere Nationalökono­men sind gelehrte Leute, in der Mehrzahl Professoren und Akademiker. Gibt es nun eine einzige allgemeine Frage, wie z. B. das Schutzzollsystem, in der sie übereinstimmten? Vor den sozialen Fragen, die voll sind von vielfachen Unbe­kannten und der Geheim- und Gefühlslogik unterliegen, gleichen sich alle Unwissenheiten aus.
Wenn also auch nur von Gelehrsamkeit strotzende Wähler den Wahlkörper bildeten, so würden ihre Abstimmungen doch nicht besser sein als die von heute. Sie würden sich vor allem durch ihre Gefühle und ihren Parteigeist leiten lassen. Wir hätten nicht eine Schwierigkeit weniger als jetzt und obendrein die harte Tyrannei der Kasten. Ob nun das Wahlrecht beschränkt oder allgemein ist, ob es in einem re­publikanischen oder in einem monarchischen Lande herrscht, ob es in Frankreich, Belgien, Griechenland, Portu­gal oder Spanien gilt, überall ist das Wahlrecht der Massen ähnlich und gibt oft die unbewussten Ansprüche und Be­dürfnisse der Rasse wieder. Der Durchschnitt der Gewähl­ten stellt für jedes Volk die Durchschnittsseele seiner Rasse dar, die von einer Generation zu ändern so ziemlich die gleiche bleibt.
[…]

Drittes Buch. […] 5. Kapitel.

Die Parlamentsversammlungen

Die Parlamentsversammlungen gehören zu den ungleichar­tigen, nicht namenlosen Massen. Obwohl ihre Zusammen­setzung je nach Zeiten und Völkern wechselt, gleichen sie einander durch ihre Charaktermerkmale doch sehr. Der Rasseneinfluss macht sich hier wohl in einer Milderung oder Verstärkung bemerkbar, verhindert das Heraustreten dieser Charakterzüge jedoch nicht. Die Parlaments Versammlungen der verschiedenen Länder, wie Griechenland, Italien, Portu­gal, Spanien, Frankreich und Amerika, weisen große Ähn­lichkeit in ihren Verhandlungen und Abstimmungen auf und überlassen die Regierungen dem Kampf mit den gleichen Schwierigkeiten.
Die parlamentarische Regierung fasst übrigens das Ideal al­ler modernen Kulturvölker in sich zusammen. Es bringt den psychologisch falschen, aber allgemein anerkannten Gedanken zum Ausdruck, dass eine Vereinigung von vielen Men­schen im gegebenen Falle fähiger ist, eine kluge und unab­hängige Entscheidung zu treffen, als eine kleine Anzahl.
In den Parlamentsversammlungen finden sich die Grund­merkmale der Massen wieder: Einseitigkeit der Ideen, Er­regbarkeit, Beeinflussbarkeit, Überschwenglichkeit der Ge­fühle, überwiegender Einfluss der Führer. Aber infolge ihrer besonderen Zusammensetzung weisen die parlamentari­schen Massen einige Unterschiede auf. Wir werden sie so­gleich feststellen.
Die Einseitigkeit der Anschauungen gehört zu den ausge­prägtesten Merkmalen dieser Versammlungen. Man trifft bei allen Parteien, namentlich der lateinischen Völker, die unveränderliche Neigung, die verwickeltsten sozialen Fra­gen durch die einfachsten begrifflichen Grundsätze und durch allgemeine Gesetze zu lösen, die in jedem Falle ange­wandt werden können.
Natürlich sind die Grundsätze bei jeder Partei verschieden; aber allein durch die Tatsache ihrer Vereinigung zu Massen haben die einzelnen stets die Neigung, den Wert dieser Grundsätze zu überschätzen und sie zu den äußersten Fol­gerungen zu treiben. Übrigens vertreten die Parlamente hauptsächlich die äußersten Ansichten.
Der vollkommenste Typus der Einseitigkeit der Versamm­lungen wurde durch die Jakobiner der großen Französi­schen Revolution verwirklicht. Da sie alle Dogmatiker und Logiker waren, die den Kopf voll verschwommener Ge­meinplätze hatten, bemühten sie sich, unbekümmert um die Tatsachen, feste Grundsätze anzuwenden; und man hat mit Recht behauptet, sie hätten die Revolution erlebt, ohne sie zu sehen. Sie bildeten sich ein, mit einigen Glaubenssätzen eine Gesellschaft von Grund auf umgestalten und eine ver­feinerte Kultur auf eine längst überschrittene Stufe der ge­sellschaftlichen Entwicklung zurückbringen zu können. Die gleiche völlige Einseitigkeit prägt sich auch in den Mitteln aus, die sie zur Verwirklichung ihres Traumes anwandten. In Wirklichkeit beschränkten sie sich auf die gewaltsame Zerstörung dessen, was sie störte. Übrigens beseelte alle, Girondisten, Bergpartei, Thermidorianer usw. derselbe Geist.
Die parlamentarischen Massen sind Einflüssen sehr zugäng­lich, und die Suggestion geht hier wie bei den übrigen Mas­sen von Führern aus, die ein Nimbus umgibt. Doch hat in den Parlamentsversammlungen die Beeinflussung sehr kla­re Grenzen, die wir abstecken müssen.
Über alle Fragen lokalen Interesses hat jedes Mitglied einer Versammlung feste, unverrückbare Ansichten, die durch kein Beweismittel zu erschüttern sind. Nicht einmal das Ta­lent eines Demosthenes könnte die Abstimmung eines Ab­geordneten über Fragen des Schutzzollsystems oder das Branntweinprivileg ändern – worin sich die Forderungen einflussreicher Wähler äußern. Die vorangegangene Beein­flussung durch die Wähler hat solches Übergewicht, dass alle andern Einflüsse aufgehoben sind und eine unbedingte Festigkeit der Meinung aufrechterhalten wird.
In allgemeinen Fragen aber, dem Sturz eines Ministeriums, der Auflage einer neuen Steuer usw., bestehen keine festge­legten Meinungen, und die Suggestionen können sich aus­wirken, wenn auch nicht ganz so stark wie in einer gewöhnlichen Masse. Jede Partei hat ihre Führer, die bisweilen gleichstarken Einfluss ausüben. Der Abgeordnete befindet sich also zwischen entgegen gesetzten Einflüssen, und es kann nicht, ausbleiben, dass er unsicher wird. Daher sieht man ihn zuweilen schon nach einer Viertelstunde in entge­gen gesetztem Sinne abstimmen und einem Gesetz einen Zusatz beifügen, der es aufhebt: etwa den Industriellen das Recht der Auswahl und der Entlassung ihrer Arbeiter neh­men, und dann diese Maßnahmen durch einen Zusatz so ziemlich wieder für ungültig erklären.
Daher zeigt eine Kammer in jeder Legislaturperiode neben sehr festen Anschauungen andere, ganz unbestimmte. Da aber im Grunde die allgemeinen Fragen die meisten sind, so herrscht Unentschiedenheit vor, die durch die ständige Furcht vor dem Wähler genährt wird, dessen verborgener Einfluss dem der Führer stets das Gegengewicht zu halten weiß.
Und doch sind in den Auseinandersetzungen, wenn die Teil­nehmer nicht von vornherein festgelegte Meinungen haben, die Führer die eigentlichen Herren.
Führer sind offenbar notwendig, denn man findet sie als Parteihäupter in allen Ländern. Sie sind die wahren Herren der Versammlungen. Die Menschen, die in den Massen ver­einigt sind, würden ohne Führer nicht fertig werden, und so zeigen die Abstimmungen im Allgemeinen nur die An­schauungen einer kleinen Minderheit.
Ich wiederhole: die Führer wirken nur sehr wenig durch ih­re Beweisgründe, sehr stark aber durch ihren Nimbus. Wenn irgendein Umstand ihn aufhebt, verlieren sie jeden Einfluss.
Dieser Führernimbus ist persönlich und hat nichts mit Na­men und Berühmtheit zu tun. Jules Simon gibt uns recht ei­genartige Beispiele dafür, wenn er über die großen Männer der Versammlung von 1848, der er beiwohnte, sagt:
„Noch zwei Monate vor seiner Allgewalt war Louis Napo­leon nichts. Victor Hugo bestieg die Rednertribüne. Aber er hatte keinen Erfolg. Man hörte ihn an, wie man Felix Pyat anhörte, aber er hatte nicht den gleichen Beifall. ,Ich liebe seine Ideen nicht‘, sagte mir Vaulabelle über Felix Pyat, ,aber er ist einer der größten Schriftsteller und der größte Redner Frankreichs.‘ Der seltene und mächtige Geist eines Edgar Quinet galt nichts. Er hatte seinen volkstümlichen Augenblick vor Eröffnung der Versammlung gehabt, in der Versammlung kam er nicht auf.
Die politischen Versammlungen sind die Stätten der Welt, wo der Glanz des Genies am wenigsten zur Geltung kommt. Man rechnet hier nur mit einer Beredsamkeit, die der Zeit und dem Ort angepasst ist, und mit Diensten, die man den Parteien erwiesen hat, nicht dem Vaterland. Damit Lamarti­ne 1848 und Thiers 1871 zur Anerkennung gelangten, be­durfte es der dringenden, unabweisbaren Wichtigkeit als treibender Kraft. Als die Gefahr vorüber war, verschwand mit der Furcht auch die Dankbarkeit.“
Ich habe die Stelle nur der Tatsachen wegen wiedergege­ben, die sie enthält, nicht wegen der versuchten Erklärun­gen, sie zeigen nur eine mittelmäßige Psychologie. Eine Masse würde ihren Charakter als Masse ja sogleich verlie­ren, wenn sie den Führern ihre Dienste, mögen sie nun dem Vaterland oder der Partei geleistet worden sein, in Anrech­nung brächte. Die Masse unterliegt dem Nimbus des Führers, ohne dass ein Gefühl des Vorteils oder der Dankbarkeit dabei mitspielt.
Der Führer, der über genügend Nimbus verfügt, besitzt denn auch eine fast unumschränkte Macht. Man kennt die ungeheure Wirkung, die ein berühmter Abgeordneter dank seines Nimbus, den er dann infolge gewisser finanzieller Vorkommnisse augenblicklich einbüßte, jahrelang ausgeübt hat. Auf ein bloßes Zeichen von ihm wurden Minister ge­stürzt. Ein Schriftsteller hat in folgenden Zeilen die Trag­weite seines Wirkens klar gezeichnet: „Herrn C … beson­ders verdanken wir es, dass wir Tonking dreimal so teuer erkaufen mussten, als es hätte sein dürfen, dass wir auf Ma­dagaskar nur eine unsichere Stellung gewonnen haben, dass wir uns ein ganzes Reich am unteren Niger rauben ließen, dass wir in Ägypten unsere Vorherrschaft eingebüßt haben. – Die Theorien von Herrn C […] haben uns mehr Gebiet ge­kostet als die Niederlagen Napoleons I.“
Wir dürfen dem Führer deswegen nicht zu sehr zürnen. Gewiss ist es uns teuer zu stehen gekommen, aber ein großer Teil seines Einflusses hing mit seiner Anschmiegung an die öffentliche Meinung zusammen, die in kolonialen Fragen keineswegs die von heute war. Selten schreitet ein Führer der öffentlichen Meinung voran, fast immer begnügt er sich damit, ihre Irrtümer anzunehmen.
Die Überredungsmittel der Führer sind, abgesehen von ih­rem Nimbus, die Faktoren, die wir schon wiederholt aufge­zählt haben. Um sie geschickt zu handhaben, muss der Füh­rer, wenigstens unbewusst, die Psychologie der Massen er-fasst haben und wissen, wie man zu ihnen zu sprechen hat. Vor allem muss er den bezaubernden Einfluss der Worte, Redewendungen und Bilder kennen. Er muss eine besonde­re Beredsamkeit besitzen, die aus energischen Behauptun­gen, die nicht zu beweisen sind, und eindrucksvollen, von ganz allgemeinen Urteilen umrahmten Bildern zusammen­gesetzt ist. Diese Art Beredsamkeit findet man in allen Ver­sammlungen, das englische Parlament, das ausgeglichenste von allen, Inbegriffen.
„Wir können beständig die Verhandlungen im Unterhause verfolgen“, bemerkt der englische Philosoph Maine, „wo alle Verhandlungen im Austausch recht schwacher Gemein­plätze und grober Anzüglichkeiten bestehen. Auf die Einbil­dungskraft einer reinen Demokratie übt diese Art allgemei­ner Redensarten eine erstaunliche Wirkung aus. Es wird im­mer leicht zu erreichen sein, dass eine Masse allgemeinen Versicherungen zustimmt, die mit packenden Worten vorge­bracht werden, obwohl sie sich nie bewahrheitet haben, und ihre Verwirklichung vielleicht gar nicht möglich ist.“
Wie die angeführte Stelle zeigt, kann die Bedeutung der „Schlagworte“ gar nicht überschätzt werden. Schon öfter haben wir die besondere Macht der Worte und Redewen­dungen betont, die so gewählt wurden, dass sie nur recht lebhafte Bilder hervorrufen. Folgender Satz aus der Rede eines Führers in Versammlungen gibt uns eine ausreichende Probe davon: „An dem Tage, da einmal dasselbe Schiff den unlauteren Politiker und den mörderischen Anarchisten nach den Fie­bergebieten der Verbannung bringt, werden sie sich mitei­nander unterhalten können und werden sich gegenseitig als die beiden komplementären Seiten derselben Gesellschafts­ordnung erscheinen.“
Das so hervorgerufene Bild ist klar und treffend, und alle Gegner des Redners fühlen sich dadurch getroffen. Sie se­hen mit einemmal die Fiebergebiete, das Fahrzeug, das sie hinführen könnte, denn gehören sie nicht vielleicht zu der recht unbestimmt abgegrenzten Klasse der bedrohten Politi­ker? Es befällt sie also die gleiche dumpfe Furcht, wie sie die Konventsmitglieder empfunden haben müssen, die durch die unbestimmten Reden Robespierres mehr oder we­niger mit der Guillotine bedroht wurden und ihm unter dem Druck dieser Furcht stets nachgaben.
Die Führer neigen alle dazu, in die unwahrscheinlichsten Übertreibungen zu verfallen. Der Redner, von dem ich so­eben einen Satz anführte, konnte, ohne großen Protest her­vorzurufen, behaupten, dass die Bankiers und Priester Bom­benwerfer bezahlten, und die Verwaltungsräte der großen Finanzgesellschaften die gleiche Strafe verdienten wie die Anarchisten. Auf die Massen wirken solche Mittel immer. Die Behauptung ist nie zu stark, der Ton nie zu drohend. Nichts schüchtert die Zuhörer mehr ein. Durch Widerspruch fürchten sie für Verräter oder Mitschuldige zu gelten.
Diese besondere Beredsamkeit hat, wie gesagt, stets alle Versammlungen beherrscht, in kritischen Zeiten ist sie nur ausgeprägter. In dieser Hinsicht ist es interessant, die Reden der großen Revolutionsredner zu lesen. Sie fühlten sich ver­pflichtet, sich alle Augenblicke zu unterbrechen, um das Verbrechen zu verdammen und die Tugend zu preisen; dann brachen sie in Verwünschungen gegen die Tyrannen aus und schwuren, frei leben oder sterben zu wollen. Die Anwesen­den erhoben sich, klatschten stürmisch Beifall und ließen sich dann beruhigt wieder nieder.
Zuweilen gibt es einen intelligenten und gebildeten Führer, doch das schadet ihm in der Regel mehr als es ihm nützt. Die Intelligenz, die die Verbundenheit aller Dinge erkennt, die Verstehen und Erklären ermöglicht, macht nachgiebig und vermindert die Kraft und Gewalt der Überzeugungen erheblich, die die Apostel nötig haben. Die großen Führer aller Zeiten, die der Revolution hauptsächlich, waren sehr beschränkt und haben deshalb den größten Einfluss ausge­übt.
Die Reden des berühmtesten unter ihnen, Robespierre, ver­blüffen oft durch ihre Zusammenhanglosigkeit, Wenn man sie liest, findet man keine annehmbare Erklärung für die un­geheure Rolle des mächtigen Diktators: „Gemeinplätze und Weitschweifigkeiten pädagogischer Be­redsamkeit und lateinischer Bildung im Dienste einer eher kindlichen als platten Seele, die sich beim Angriff wie bei der Verteidigung auf das ,komm doch ran‘ von Schülern zu beschränken scheint. Nicht ein Gedanke, keine Wendung, kein Einfall – es ist die Langeweile in höchster Steigerung. Man hört verdrießlich auf zu lesen und hat Lust, mit dem liebenswürdigen Camille Desmoulins ,ach!‘ zu seufzen.“
Man erschrickt, wenn man bedenkt, welche Macht ein Mann, der sich mit einem Nimbus zu umgeben weiß, durch die Verbindung von starker Überzeugung mit außergewöhn­licher Beschränktheit des Geistes erlangt. Das sind jedoch die notwendigen Vorbedingungen, um die Hindernisse zu übersehen und um wollen zu können. Instinktiv erkennen die Massen in diesen kraftvoll Überzeugten die Gebieter, die sie brauchen.
Der Erfolg einer Rede in einer Parlamentsversammlung hängt fast ausschließlich vom Nimbus des Redners ab, kei­neswegs, von den Gründen, die er vorbringt.
Der unbekannte Redner, dessen Rede gute Beweisgründe, aber nur Beweisgründe enthält, hat keine Aussicht, auch nur angehört zu werden. Ein ehemaliger Abgeordneter, Herr Descubes, hat das Bild des einflusslosen Abgeordneten in folgenden Zeilen entworfen: „Sobald er die Rednerbühne bestiegen hat, nimmt er aus seiner Mappe einen Aktenstoß, den er planmäßig vor sich ausbreitet, und beginnt voll Zu­versicht.
Er schmeichelt sich, die Überzeugung, die ihn beseelt, auf die Gemüter der Hörer übertragen zu können. Er hat seine Beweisgründe erwogen, steckt übervoll von Zahlen und Be­weisen und ist überzeugt, recht zu haben. Jeder Widerstand wird vor der Klarheit seiner Darlegungen schwinden. Er be­ginnt im Vertrauen auf sein gutes Recht und die Aufmerk­samkeit seiner Kollegen, die gewiss nichts mehr wünschen, als sich vor der Wahrheit beugen zu dürfen.
Er spricht – und sofort wundert er sich über die Bewegung im Saale und den Lärm, der so entsteht, er ist überrascht und etwas aufgeregt.
Warum wird es nicht ruhig? Weshalb diese allgemeine Un­aufmerksamkeit? Was denken denn die, die sich miteinan­der unterhalten? Welch dringender Grund veranlasst einen ändern, seinen Platz zu verlassen?
Auf seinem Gesicht zeigt sich Unruhe; er runzelt die Stirn, hält inne. Durch den Vorsitzenden ermutigt, fährt er mit erhobener Stimme fort. Dieselbe Unaufmerksamkeit. Er über­anstrengt seine Stimme, wird unruhig; der Lärm um ihn he­rum steigert sich. Er hört sich selbst nicht mehr, hält wieder inne, dann spricht er so gut es geht weiter, aus Furcht, sein Stillschweigen könne den peinlichen Ruf ,Schluss!‘ herauf­beschwören. Der Lärm wird unerträglich.“
In einem gewissen Grade der Erregung gleichen die Parla­mentsversammlungen völlig den gewöhnlichen ungleichar­tigen Massen, und ihre Gefühle weisen folglich die Eigen­tümlichkeit auf, stets überschwänglicher Art zu sein. Sie lassen sich dann zu den größten Heldentaten oder zu den ärgsten Ausschreitungen hinreißen. Der einzelne hört auf, er selbst zu sein und wird für Maßnahmen stimmen, die seinen persönlichen Vorteilen ganz entgegengesetzt sind.
Die Geschichte der Revolution zeigt, in welchem Maße die Versammlungen unbewusst werden und Beeinflussungen unterworfen sein können, die ihren Vorteilen ganz wider­sprechen. Es war für den Adel ein ungeheures Opfer, auf seine Vorrechte zu verzichten, und doch geschah es in jener berühmten Nacht der Konstituante. Der Verzicht auf ihre Unverletzlichkeit bedeutete für die Konventsmitglieder eine ständige Todesdrohung, und doch leisteten sie ihn und fürchteten nicht, einander gegenseitig zu dezimieren, ob­wohl sie genau wussten, dass das Schafott, dem heute ihre Kollegen zugeführt wurden, morgen ihnen selbst bevor­stand. Aber da sie jenen Grad von Automatismus erreicht hatten, den ich geschildert habe, konnte kein Bedenken sie hindern, sich den Einflüssen hinzugeben, die sie bezwan­gen. Folgende Stelle aus den Erinnerungen Billaud-Varennes, der zu ihnen gehört, ist in dieser Hinsicht durchaus all­gemeingültig: „Die Entscheidungen, die man uns so sehr vorwirft, wollten wir noch zwei, ja, einen Tag vorher meis­tens selbst nicht, die Krise allein rief sie hervor.“ Dieselben Erscheinungen des Unbewussten traten während aller stürmischen Sitzungen des Konvents auf. Nichts ist zutreffender.
Dieselben Erscheinungen des Unbewussten traten während aller stürmischen Sitzungen des Konvents auf.
„Sie billigen und beschließen, was sie verabscheuen“, sagt Taine, „nicht allein Dummheiten und Torheiten, auch Ver­brechen, Ermordung Unschuldiger, Freundesmord. Einmü­tig und unter dem lebhaftesten Beifall schickt die Linke und die Rechte vereint Danton, ihr natürliches Oberhaupt, den größten Förderer und Führer der Revolution, aufs Schafott. Einmütig und unter größtem Beifall stimmt die Rechte mit der Linken vereint für die ärgsten Beschlüsse der revolutio­nären Regierung. Einmütig und unter Rufen der Bewunde­rung und Begeisterung, unter leidenschaftlichen Zustim­mungskundgebungen für Collot d’Herbois, Couthon, Ro­bespierre, hält der Konvent durch unvorbereitete vielfache Wiederwahl die mörderische Regierung aufrecht, obwohl die Zentrumspartei sie wegen ihrer Mordtaten hasst und die Bergpartei sie verabscheut, weil ihre Reihen durch sie ge­lichtet werden. Zentrum und Berg, Mehr- und Minderheit enden damit, ihren eignen Selbstmord zu fördern. Am 22. Prairial hat sich der ganze Konvent ergeben; am 8. Thermidor, während der ersten Viertelstunde nach der Rede Robespierres, abermals.“
Das Bild mag düster erscheinen, dennoch ist es wahrheits­getreu. Die genügend erregten und beeinflussten Parla­mentsversammlungen weisen dieselben Kennzeichen auf. Sie werden zur beweglichen Herde, die jedem Antrieb ge­horcht. Folgende Schilderung der Versammlung von 1848, die wir dem Parlamentarier Spuller verdanken, dessen de­mokratische Gesinnung nicht angezweifelt werden kann, ist ganz allgemeingültig; ich entnehme sie der „Revue literaire“. Man findet darin all die überschwänglichen Gefühle der Massen, die ich beschrieben habe, und die außerordent­liche Beweglichkeit, die imstande ist, von einem Augen­blick zum andern die Stufenleiter verschiedenster Gefühle zu durchlaufen.
„Zwietracht, Eifersucht und Argwohn im Wechsel mit blin­dem Vertrauen und schrankenlosen Hoffnungen haben die Republikanische Partei ins Verderben geführt. Ihre Ahnungslosigkeit kann nur mit ihrem Misstrauen gegen alles verglichen werden. Kein Sinn für Gesetzlichkeit, kein Geist der Ordnung, nur Furcht und Illusionen ohne Maß: Bauer und Kind sind darin gleich. Ihre Ruhe wetteifert mit ihrer Ungeduld. Ihre Wildheit ist ebenso groß wie ihre Folgsam­keit. Das ist die Eigentümlichkeit eines unreifen Tempera­ments und des Mangels an Erziehung. Nichts setzt sie in Er­staunen, alles verwirrt sie. Zitternd, feige, und zugleich un­verzagt und heldenhaft werden sie sich in die Flammen werfen und doch vor einem Schatten zurückweichen.
Wirkungen und Beziehungen der Dinge sind ihnen unbe­kannt. Ebenso schnell entmutigt wie erregt, sind sie allen Schrecken ausgesetzt, entweder himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt, und haben nie den nötigen Grad und das passende Maß. Beweglicher als das Wasser, spiegeln sie alle Farben wider und nehmen alle Formen an. Auf welcher Grundlage müsste sich eine Regierung aufbauen, von der man hoffen könnte, dass sie bei ihnen festen Fuß fassen würde?“
Zum Glück äußern sich die Eigenschaften, die wir schilder­ten, nicht ständig in den Parlaments Versammlungen. Diese sind nur in gewissen Augenblicken Massen. In vielen Fällen bewahren die einzelnen, die ihnen angehören, ihre Eigenart, und daher kann auch eine Versammlung vorzügliche, sach­gemäße Gesetze ausarbeiten. Allerdings sind diese Gesetze von einem Fachmann im stillen Arbeitszimmer entworfen, und das angenommene Gesetz ist in Wahrheit das Werk ei­nes einzelnen. Nur die Fachleute bewahren die Versamm­lungen vor allzu sinnlosen, unerprobten Maßnahmen. Sie werden dann vorübergehend Führer, die Versammlung wirkt nicht auf sie, sondern sie wirken auf die Versammlung.
Trotz aller Schwierigkeiten ihrer Arbeitsweise bilden die Parlamentsversammlungen die beste Regierungsform, die die Völker bisher gefunden haben, um sich vor allem mög­lichst aus dem Joch persönlicher Tyrannei zu befreien. Sie sind jedenfalls das Ideal einer Regierung, wenigstens für Philosophen, Denker, Schriftsteller, Künstler und Gelehrte, kurz für alle, die den Gipfel einer Kultur bilden.
Sie bergen eigentlich nur zwei ernstliche Gefahren in sich: die übermäßige Verschwendung der Finanzen und die zu­nehmende Beschränkung der persönlichen Freiheit. Die ers­te Gefahr ist die notwendige Folge der Ansprüche und der Kurzsichtigkeit der Wählermassen. Wenn ein Parlaments­mitglied einen Antrag stellt, der offensichtlich demokrati­schen Anschauungen entspricht, z. B. auf Altersversorgung aller Arbeiter oder Gehaltszulage für Bahnwärter, Lehrer usw., so wagen die andern Abgeordneten aus Furcht vor den Wählern nicht, sich den Anschein zu geben, als ob sie deren Vorteile durch Ablehnung der vorgeschlagenen Maßnahme gering schätzten. Sie wissen wohl, dass dadurch der Staatshaushält stark belastet und die Auflegung neuer Steuern nö­tig werden wird. Doch bei der Abstimmung gibt es kein Zö­gern. Während die Folgen der Ausgabenvermehrung in wei­ter Ferne liegen und für sie keine unangenehmen Wirkun­gen haben, könnten sich die Folgen einer ablehnenden Ab­stimmung schon am nächsten Tage, wenn sie vor die Wäh­ler treten müssen, bemerkbar machen.
An diese erste Ursache für die Überspannung der Ausgaben reiht sich eine andre, nicht weniger gebieterische: die Ver­pflichtung, alle Ausgaben für rein örtliche Bedürfnisse zu bewilligen. Kein Abgeordneter kann sich ihnen widerset­zen, weil sie ebenfalls Forderungen der Wähler darstellen und weil jeder Abgeordnete nur dann das Nötige für seinen Wahlkreis erlangen kann, wenn er den entsprechenden For­derungen seiner Kollegen zustimmt. Die zweite der oben erwähnten Gefahren, die unvermeidliche Beschränkung der Freiheit durch die Parlamente, ist zwar weniger sichtbar, aber doch Tatsache. Sie ist eine Folge der zahllosen, stets einschränkenden Gesetze, deren Auswirkungen die kurz­sichtigen Parlamente nicht bemerken und für die zu stim­men sie sich verpflichtet fühlen.
Diese Gefahr muss wohl unvermeidlich sein, denn selbst England, wo sich gewiss die vollkommenste Art der parla­mentarischen Regierung zeigt und der Abgeordnete am un­abhängigsten vom Wähler ist, vermochte ihr nicht zu entge­hen. Herbert Spencer hatte in einer früheren Arbeit gezeigt, dass die Zunahme der scheinbaren die Abnahme der wirkli­chen Freiheit zur Folge haben müsse. In einer späteren Schrift. „Der Einzelne gegen den Staat“, nimmt er diese Behauptung wieder auf und sagt über das englische Parla­ment folgendes: „Seit dieser Zeit hat die Gesetzgebung den Lauf genom­men, den ich voraussagte. Diktatorische Maßnahmen, die sich rasch vervielfachten, haben das ständige Bestreben, die persönliche Freiheit zu beschränken, und zwar in zwiefacher Weise: jedes Jahr wird eine immer größere Anzahl ge­setzlicher Forderungen erlassen, die der früheren Hand­lungsfreiheit des Bürgers Beschränkung auferlegen und ihn zu Handlungen zwingen, die er früher nach Belieben bege­hen oder unterlassen konnte. Gleichzeitig haben immer drü­ckendere Lasten, besonders örtliche Abgaben, von vornhe­rein die Freiheit beschränkt, indem sie den Teil seines Ein­kommens, den er nach Belieben ausgeben konnte, vermin­derten und den Teil vergrößerten, der ihm weggenommen wurde, um je nach dem guten Willen der Beamten ausgege­ben zu werden.“
Diese immer mehr zunehmende Freiheitsbeschränkung zeigt sich in allen Ländern in einer besonderen Weise, auf die Spencer nicht hingewiesen hat: Die Schaffung jener un­zähligen gesetzlichen Maßnahmen allgemein beschränken­der Art führt notwendig zur Erhöhung der Zahl, der Macht und des Einflusses der Beamten, die mit ihrer Durchfüh­rung beauftragt werden. Sie haben also alle Aussicht, die wahren Gebieter der Kulturländer zu werden. Ihre Macht ist umso größer, als nur die Beamtenkaste, als einzige, die un­verantwortlich, unpersönlich und auf Lebenszeit angestellt ist, dem unaufhörlichen Machtwechsel entgeht. Nun gibt es aber keine Gewaltherrschaft, die härter ist als diese, die in dieser dreifachen Gestalt auftritt.
Die fortwährende Schaffung von Gesetzen und Beschrän­kungsmaßnahmen, die die unbedeutendsten Lebensäuße­rungen mit byzantinischen Förmlichkeiten umgeben, hat das verhängnisvolle Ergebnis, den Bereich, in dem sich der Bürger frei bewegen kann, immer mehr einzuengen. Als Opfer des Irrtums, dass durch Vermehrung der Gesetze Freiheit und Gleichheit besser gesichert würden, nehmen die Völker nur drückendere Fesseln auf sich.
Sie nehmen sie nicht ungestraft auf sich. Gewohnt, jedes Joch zu tragen, kommen sie schließlich dahin, es »aufzusu­chen, und büßen zuletzt alle Ursprünglichkeit und Kraft ein. Sie sind nur noch wesenlose Schatten, Automaten, willen­los, ohne Widerstand und Kraft.
Wenn der Mensch in sich selbst die Spannkraft nicht mehr findet, muss er sie anderswo suchen. Mit der zunehmenden Gleichgültigkeit und Ohnmacht der Bürger muss die Bedeu­tung der Regierungen nur noch mehr wachsen. Sie müssen notgedrungen den Geist der Initiative, der Unternehmung und Führung besitzen, den der Bürger verloren hat. Sie ha­ben alles zu unternehmen, zu leiten, zu schützen. So wird der Staat zu einem allmächtigen Gott. Die Erfahrung lehrt aber, dass die Macht solcher Gottheiten weder von Dauer noch sehr stark war.
Die fortschreitende Einschränkung aller Freiheiten bei ge­wissen Völkern, trotz einer Ungebundenheit, die ihnen Frei­heit vortäuscht, scheint eine Folge ihres Alters und ebenso sehr der Regierung zu sein. Sie ist ein Vorzeichen für die Entartung, der bisher noch keine Kultur entgehen konnte. Wenn man aus den Lehren der Vergangenheit Schlüsse zieht und nach den Anzeichen urteilt, die überall in Erscheinung treten, so sind mehrere unserer modernen Kulturen auf die­ser Stufe des höchsten Greisenalters, das der Entartung vo­rangeht, angelangt. Bestimmte Entwicklungsformen scheinen für alle Völker unabwendbar zu sein, da sich dieser Verlauf in der Geschichte so oft wiederholt.
Es ist leicht, die Stufen dieser Entwicklung ganz allgemein zu kennzeich­nen, und mit dieser Zusammenfassung soll unsre Arbeit ab­geschlossen werden.
Wenn wir in großen Zügen die Entstehung der Größe und des Niedergangs der Kulturen der Vergangenheit betrach­ten, so sehen wir folgendes: Beim Erwachen dieser Kulturen einen zusammen gewehten Haufen von Menschen verschiedenster Abstammung, zufäl­lig vereinigt durch Wanderungen, Überfälle und Eroberun­gen. Von verschiedenem Blut, verschiedener Sprache und ebenso verschiedenen Anschauungen, hält diese Menschen kein andres Band zusammen als das halb anerkannte Gesetz eines Häuptlings. In ihrem verworrenen Haufen finden sich die psychologischen Merkmale der Massen im höchsten Maße. Sie zeigen den Zusammenhang für den Augenblick, den Heldenmut, die Schwächen, die Triebhandlungen und die Gewalttätigkeiten. Nichts ist bei ihnen von Dauer. Sie sind Barbaren.
Dann vollendet die Zeit ihr Werk. Gleichheit der Umge­bung, wiederholte Kreuzungen, das Bedürfnis eines Ge­meinschaftslebens fangen langsam an zu wirken. Die ver­schiedenen Bestandteile des Haufens beginnen zu ver­schmelzen und eine Rasse zu bilden, d. h. ein Aggregat mit gemeinsamen Eigenschaften und Gefühlen, die sich durch Vererbung immer mehr befestigen. Die Masse ist ein Volk geworden, und dies Volk kann sich aus der Barbarei erhe­ben.
Es wird sie aber erst dann völlig hinter sich haben, wenn es sich nach langen Anstrengungen, unaufhörlich wiederholten Kämpfen und unzähligen Ansätzen ein Ideal errungen hat. Die Beschaffenheit dieses Ideals ist nicht wichtig. Ob es der Kultus Roms, die Macht Athens oder der Triumph Allahs ist, es wird imstande sein, allen einzelnen der Rasse, die sich bilden will, vollkommene Einheit des Fühlens und Denkens zu verleihen.
Nun kann eine neue Kultur mit ihren Einrichtungen, Glau­bensformen und Künsten entstehen. Von ihrem Wunsch­traum fortgerissen, wird die Rasse nach und nach alles ge­winnen, was Glanz, Kraft, Größe verleiht. Zuweilen wird sie zweifellos Masse sein, aber hinter den beweglichen und wechselnden Eigenschaften der Masse wird das feste Gefü­ge, die Rassenseele, stehen, welche die Schwingungsweite eines Volkes genau bestimmt und den Zufall regelt.
Nach Vollendung ihrer schöpferischen Wirkung aber be­ginnt die Zeit jenes Zerstörungswerk, dem weder Götter noch Menschen entgehen. Ist die Kultur auf einer gewissen Höhe der Macht und Mannigfaltigkeit angelangt, so hört sie auf zu wachsen, und sobald sie zu wachsen aufhört, ist sie zu raschem Niedergang bestimmt. Bald schlägt die Stunde des Alters.
Diese unentrinnbare Stunde ist stets durch das Verblassen des Ideals gekennzeichnet, das die Rassenseele erhob. In dem Maße, als dieses Ideal abstirbt, beginnen alle von ihm geschaffenen religiösen, politischen und gesellschaftlichen Gebilde zu wanken. Mit dem fortschreitenden Schwinden ihres Ideals verliert die Rasse mehr und mehr alles, was ih­ren Zusammenhalt, ihre Einheit und Stärke bildete. Der einzelne kann an Persönlichkeit und Verstand wachsen, gleich­zeitig tritt aber an die Stelle des Gemeinschaftsegoismus der Rasse die übermäßige Entfaltung des Einzelegoismus, die von einer Schwächung des Charakters und einer Verrin­gerung der Tatkraft begleitet wird. Was ein Volk, eine Ein­heit, einen Block bildete, wird zuletzt ein Haufen zusam­menhangloser einzelner, die nur noch künstlich durch Über­lieferungen und Einrichtungen zusammengehalten werden. Dann geschieht es, dass die Menschen, die durch ihre Nei­gungen und Ansprüche voneinander getrennt sind, sich nicht mehr regieren können und danach verlangen, in den unbedeutendsten Handlungen geführt zu werden, und dass der Staat seinen verzehrenden Einfluss ausübt.
Mit dem endgültigen Verlust des früheren Ideals verliert die Rasse zuletzt auch ihre Seele, sie ist dann nur noch eine Menge allein stehender einzelner und wird wieder, was sie am Ausgangspunkt war, eine Masse. Sie zeigt all ihre flüch­tigen, unbeständigen und zukunftslosen Eigenschaften. Die Kultur ist ohne jede Festigkeit und allen Zufällen preisgege­ben. Der Pöbel herrscht, und die Barbaren dringen vor. Noch kann die Kultur glänzend scheinen, weil sie das äuße­re Ansehen bewahrt, das von einer langen Vergangenheit geschaffen wurde, tatsächlich aber ist sie ein morscher Bau, der keine Stütze mehr hat und beim ersten Sturm zusam­menbrechen wird.
Aus der Barbarei von einem Wunschtraum zur Kultur ge­führt, dann, sobald dieser Traum seine Kraft eingebüßt hat, Niedergang und Tod – in diesem Kreislauf bewegt sich das Leben eines Volkes.

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