16. Jahrgang | Nummer 22 | 28. Oktober 2013

Sieben Isländische Ansichtskarten

von Eckhard Mieder

1. Bakkagerdi

Gekreuzigt vom langen Weg durch die Berge
liege ich im Gras von Bacardi-Land*.
Über mir das Althing der Wolken,
über denen der Himmel, blau wie die Lüge.

Tiefer nahe rücken die Wolken mir
und auseinander. Als hätten sie ihre Urteile gefällt.
Nun sind sie auf dem Wege nach Hause.

Die Lüge streckt und weitet sich und schließt
das Dunkel des Weltalls ein,
das ich eines Tages durchwandern werde
wie eben die Berge an der Bucht, nur länger.

* Schierer Sprach-Bequemlichkeit ist hier wie in anderen Island-Gedichten geschuldet, dass ich mir die isländischen Namen mundgerecht mache; fair ist das nicht gegen das Isländische; ich entschuldige mich hiermit beim Inselvolk.

***

2. Odadahraun

Gewiss wächst hier nicht Yggdrasill.
Auch nie ein Bäumchen mit
ängstlichen, grünen Äpfeln.
Doch vielleicht nach unten in die Erde,
der Wärme zu. Vielleicht laufen wir alle
auf dem Kopf durch die Welt.

***

3. Dummburg*

Wer hier allein bleibt, muss sich zusammenhalten,
sonst zerfällt er in die Gestalten seiner Phantasie.
Wesen, die mit Bimsstein werfen und lautlos laufen
über Netz-Haut und Trommelfell.

Nimm all die Riesen, Zwerge, Hexen, Kobolde zusammen,
von denen du als Kind gehört hast.

Nimm dazu all die Heuchler, Lügner, Idioten,
die dir übern Weg gelaufen sind –
dann hast du den Millionsten Teil eines Heeres,
das aus dem Boden kraucht als Steine:

Idioten, Lügner, Heuchler – nichts als Steine.

Und vor Riesen, Zwergen, Hexen und Kobolden
muss sich niemand fürchten, mein Kind.

* Dimburgi bei Reykjahlid

***

4. Herdubreit

Die Queen der Berge,
die Diva. Sie geht dir nicht
aus den Augen.
Sie ist abonniert: das Paradestück
des touristischen Boulevards.

Mit ihrem Häubchen aus Schnee
Schaut sie mich an:
die Großmutter aus „Rotkäppchen“.

***

5. An der Bogart-Bucht*

Den frischesten Fisch isst der Wanderer
im Restaurant an der Bogart-Bucht*.
An der Holzwand das Foto des Mannes, der trunken
vorm Tresen schläft:
Eben noch saß er
auf seinem Hintern, der von Fjord zu Fjord reicht,
am Nebentisch:
wo jetzt ein Troll in den Laptop schaut
nach dem Wetter von morgen, ob es macht,
was er programmiert hat.

Der Wirt mit seiner moskowitischen Schiebermütze
stellt eine Büchse Gull-Bier hin, zu trinken
auf das bekömmliche, nächste Hoch über der Bucht.

Die drei Männer
Spielen im Winter als Trio Jazz
in diesem Speisesaal, in diesem Kulturpalast.
Der eine Tuba, der zweite Klavier, der dritte Schlagzeug.
An den anderen Abenden malen sie Bilder
oder spielen Shakespeare auf der Alfa-Romeo-Burg**
bis zum Tode.
Ihre Elfen stricken derweil Pullover.

* Bakkafjördur, ** Alfaburg; Elfenburg

***

6. Solfataren

Wie: Seit Jahrzehnten ungeputzte Urinale, die Ränder
gelblich, grau und gräulich, nein, ich will sie
nicht beschreiben:
des Teufels Pisse.
Wie sie quillt und brodelt und Blasen schlägt,
jedes Loch eine Krise unbekannter Währung,
zerplatzt und stinkt:
So nahe der Hölle
war ich, denke ich, noch nie, doch denke ich, woher
willst du das wissen,
ob ich nicht schon
näher ihr war, der unsichtbaren,
falls sie ist.

***

7. Stadur

Stunde um Stunde. Nebel, qualdicht.
Rentiere! warnen Schilder, rotgelb.
Über vier Rädern denke ich an Lappland zurück.

Kurven und Schluchten. Rentiere, auch noch!
Im Nebel der Fluss aus dem Gletscher Namenlos.
Scheinwerfer. Es klatscht. Die Windschutzscheibe bebt.

Stunde um Stunde. Eine Insel im Meer
bin ich auf einer Insel im Meer, die eine Insel ist
auf der Erde im All. Heller* ist weit.

Die Tankstelle – die Dankstelle. Der Wind reißt die Tür
aus der Hand. Sie knallt gegen die Zapfsäule.
Das will niemand hören. Das hört niemand.

Stunde um Stunde. Bis es aufreißt überm Norden,
wo für den Hering der Regen der Himmel ist,
wo Delphin und Wal Atem stäubend auftauchen.

* Hella