16. Jahrgang | Nummer 21 | 14. Oktober 2013

Suchtkranke

von Heerke Hummel

Ein neues Buch zu dieser Thematik ist gerade auf den Markt gekommen. Nichts Neues? Kennen wir zur Genüge, sehen wir täglich auf der Straße, hören wir im Freundeskreis, erleben wir vielleicht sogar in der Familie? Nein, denn Katrin Sobotha-Heidelk ist eine spannende Synthese von Information, Aufklärung, vielleicht auch Hilfe gelungen.
„Ich wollte ein Buch über Süchtige schreiben, weil mich Menschen in Grenzsituationen interessieren“, sagte die studierte Bibliothekswissenschaftlerin, Jahrgang 1968, in einem Interview. Darum führte sie in Abstimmung und Beratung mit Suchtexperten sowie Selbsthilfegruppen Gespräche mit ihren Protagonisten. Entstanden sind daraus zwanzig Porträts von Menschen in Deutschland und der Schweiz, die gegen unterschiedlichste Süchte, vom Alkoholismus bis zur Sex-Sucht, angekämpft hatten. Es sind kurz gefasste, auf Beginn und Ursachen sowie Strategien zur Überwindung der Sucht bezogene Lebensgeschichten der Betroffenen und schildern aus deren Sicht und in ihrer Sprache – ohne Voyeurismus, aber auch ohne Rücksicht – die meist erschütternden Erlebnisse. So schafft es die Autorin, dem Leser nicht nur viele Schrecknisse in allen Einzelheiten mitzuteilen. Nein, sie lässt uns durch die ergreifenden Detailschilderungen der Kranken das von ihnen Durchlebte wie eigenes Leid nachempfinden und selbst in deren Gefühlswelt eintauchen.
Zum Beispiel, wenn Fred erzählt. Der schlich wegen des Ärgers mit seiner Frau heimlich und ständig in der Angst, entdeckt zu werden, im Wohngebiet auf der Suche nach Verstecken für seine Schnapsflaschen herum – im hohen Gras dicht an Zäunen, wo sie vom Rasenmäher nicht erfasst wurden, oder in einer nicht verschlossenen Streusandkiste. Verstecken und Wiederfinden musste eine Sache von Sekunden sein, denn im Wohngebiet war man nicht lange allein und vor Blicken sicher. Aber sicher vor den Augen anderer musste der Schatz auch sein.
Fred schildert, wie seine innig geliebte Gerda ihm eines Tages den Inhalt der bei seinen Winterschuhen gefundenen Flasche ins Gesicht goss, als er schlafend im Bett lag, so dass er an dem Fusel fast zu ersticken glaubte und sie heulend anflehte, von ihm abzulassen. Sie reichte die Scheidung ein. Erst da suchte er medizinischen Rat und die Unterstützung einer Selbsthilfegruppe. Wir können quasi miterleben, mit welchen Gefühlen er zur ersten Sitzung ging und von welch innerlicher Dankbarkeit er danach draußen an der frischen Luft erfüllt war – um aber doch gleich wieder eine Flasche Klaren aus der Tasche zu ziehen und zu trinken. Er wollte irgendetwas Großes tun, einen Punkt setzen nach dieser Runde auf einem neuen Weg. Und weil er sich danach so schämte, am gleichen Abend noch getrunken zu haben, ging er nicht wieder hin zu den Blaukreuzlern. Aber die anderen aus der Selbsthilfegruppe gaben nicht auf, kümmerten sich um ihn, bis er wieder zu ihren Sitzungen kam.
Scham und Angst waren dominierende Gefühle in Freds Leben. Angst schließlich auch vor den körperlichen Folgen des Verzichts auf Alkohol. Er schildert sie so: „Vierundzwanzig Stunden nach dem letzten Schluck setzte das Herzrasen ein, mitten in meiner linken Brust. Ein Infarkt? Es drückte in der Magengegend, klemmte mir den Oberbauch ab und schnitt in meine Lunge, sodass jeder Atemzug zu einer Angstpartie wurde. Fror ich so, weil mein Schlafanzug zum Auswringen war? Oder zitterte ich, weil ich jetzt vielleicht sterben musste? Sah Gerda nicht, dass ich am Ende war? Würde sie mich liegen lassen? Es war kein Infarkt. Es war Rotbarts Prophezeiung. Entspannen, hatte er gesagt. Wie denn, wenn mir die Arme wegzitterten? Jetzt hatte ich wohl mehrere Tage Dauerkrampf vor mir. Und da sollte es einen Gott geben?“
Die emotionale Wirkung solcher Schilderungen ist umso größer, als der Leser von vorn herein weiß, dass die Autorin nichts erfunden hat. Ihre Protagonisten hatten das Geschilderte wirklich durchlebt.
„Ein Leben weiter“ klagt nicht an, will nicht belehren. Es schildert Tatsachen, gibt Einblicke in das Leben und in die Nöte von Menschen. Den Freunden und Bekannten, Kollegen, ja selbst den Familien dieser Personen ist davon oftmals nichts oder lange Zeit nichts bekannt. Das Buch macht nachdenklich: Was wissen wir eigentlich von unseren Lieben, Freunden und Kollegen? Alyssa beispielsweise ist nicht anzusehen, dass sie zu den Schwerstabhängigen zählt. In einem Zentrum für heroingestützte Behandlung in der Schweiz wird ihr zweimal täglich eine Dosis Heroin verabreicht, ohne die sie als berufstätige alleinerziehende Mutter ihren Alltag nicht bewältigen könnte. „Ich führe ein Doppelleben“, sagt sie, „das belastet mich enorm. Aber ich bin froh, dass ich jeden Tag im Büro so tun kann, als sei ich eine ganz normale alleinerziehende Mutter, die arbeiten gehen muss.“ Und niemand ahnt, dass sie jeden Morgen schon um sechs Uhr auf dem Fahrrad sitzt, um in der Abgabestelle des Heroins eine der ersten unter den Patienten zu sein. Das ist notwendig, damit sie es vor der Arbeit noch schafft, mit ihrem Kind zu frühstücken und es in die Schule zu bringen. Spätestens Alyssas Schicksal überzeugt, dass Sucht eine Krankheit ist. Sie verändert das Leben der Betroffenen von Grund auf. Wer sie überwunden hat oder zumindest, wie Alyssa, beherrscht, kann sagen, dass er ein neues Leben lebt, ein Leben weiter ist.
Katrin Sobotha-Heidelk hat ein Buch vorgelegt, das sich an einen breiten Leserkreis wendet. Es setzt Fachwissen weder voraus noch vermittelt es solches. Es dürfte aber für Leute vom Fach und für Betroffene ebenso lesenswert sein wie für Menschen, die das Thema Suchtkrankheit an sich wenig oder gar nicht interessiert. Denn es geht in ihm nicht um die eigentliche Krankheit, sondern um das Schicksal und die Befindlichkeit betroffener Menschen. Nichts wiederholt sich, nichts macht Gähnen. Immer wieder kann man staunen oder ergriffen sein von den Wechselfällen des Lebens, sich wundern über die Möglichkeiten des Schicksals.
Zugleich mag das Buch eine Warnung sein, es mag Verständnis erzeugen, es mag hoffen lassen und auch Mut machen zum Kampf gegen die Sucht. Denn es lässt Menschen zu Wort kommen, die vor einem Abgrund standen und es doch geschafft haben, die Kurve zu kriegen. Und es mag den Leser schließlich vor die Frage stellen: Werde ich meiner Eigenverantwortung für mein Leben im Umgang mit seinen Schwierigkeiten, Herausforderungen und Verlockungen gerecht? Sucht und Abhängigkeit fallen nicht vom Himmel, entstehen nicht von einem Moment auf den anderen, aber Drogen lösen keine Probleme. Verantwortungsbewusste Selbstbeobachtung und Selbstdisziplin in allen Lebenslagen sind daher wohl die beste Prävention auch gegen Süchte und Abhängigkeiten.

Katrin Sobotha-Heidelk: Ein Leben weiter. Vom Mut, sich der Sucht zu stellen. 20 Porträts, Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, Berlin 2013, 272 Seiten, 9,95 Euro.