Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 8. November 2004, Heft 23

Gib mir dein Pfötchen

von Hans-Hermann Krönert

Was wir gestern wußten, taugt heute nicht mehr. Was wir heute wissen, wissen wir morgen besser. Jeden Tag eine Neuigkeit, jeden Tag eine wissenschaftliche Offenbarung!
Die Genetiker haben jetzt rausgekriegt, lese ich in meiner Zeitung, daß etwa ein halbes Prozent der männlichen Weltbevölkerung vom Mongolenherrscher Dschingis Khan abstammt (beziehungsweise von seinen nicht minder triebhaften Verwandten) – die Y-Chromosomen beweisen es! Andere Forscher sind nun wieder, lese ich ein paar Zeitungen weiter, zum Schluß gekommen: Dschingis war gar kein Mongole, er war Kasache! Und noch eine unerhörte Neuigkeit: Der gnadenlose Eroberer konnte lesen. Er bestellte nach einem erst jüngst gefundenen Dokument seinerzeit eine Abhandlung – über Moral und langes Leben. Solch reuige Lektüre, denke ich, würde ihm heute nichts nützen: Er säße vorm Europäischen Gerichtshof, angeklagt wegen Völkermordes.
Andere würden wohl auch einsitzen oder einen Prozeß in Abwesenheit an den Hals kriegen: so die Mörder von Gletschermann Ötzi. An dessen Leichnam wurden gleich vier verschiedene Blutproben seiner Feinde ausgemacht, die ihm offenbar das erlegte Rotwild neideten. Nun muß der alte Jäger sich in Eis gekühlt von allen Leuten beschauen lassen. Wer weiß, was man im Laufe der nächsten Untersuchungen noch alles erfährt; vielleicht sogar, ob er verheiratet oder schwul war …
Apropos schwul. Michelangelo, stellte ein amerikanischer Kunsthistoriker anhand von überlieferten Konten fest, hat ein Fünftel seines nicht unbeträchtlichen Vermögens einem jungen Bankier vermacht, in den er sich verliebt hatte. Eine US-Kollegin des Forschers hat wiederum aus über hundert Kantaten herausgefunden, daß der große Komponist Georg Friedrich Händel homosexuell gewesen sein muß. Zu viel Gejuchze in den Tonfolgen … Und erst Dürer! Der war doch glatt mit seinem femininen Äußeren und seinen vielen Aktstudien von Männerkörpern den Geschlechtsgenossen verfallen!
Jetzt geht’s auch einigen Heldinnen der Weltgeschichte an den Kragen. Nehmen wir mal die Geliebte Cäsars, die ägyptische Königin. Die Pharaonin Kleopatra, sagt die moderne Forschung, sei gar nicht so bezaubernd schön und liebreich gewesen, sondern eher häßlich, kleinwüchsig und rundlich, wie eine Ausstellung im British Museum London zu beweisen suchte. Auch der Jungfrau von Orleans wird ihr Glorienschein genommen: Nichts da mit einer französischen Walküre im Sattel eines edlen Rappen – klein und schmächtig soll sie gewesen sein, gar an Magersucht gelitten haben! Kann man denn da vor einem französischen Volksheer gegen die Engländer in den Kampf ziehen, ohne vom Gaul zu fallen?
Das alles hat aber auch, sinniere ich, sein Gutes: Die Helden müssen vom hohen Podest herabsteigen. Zum Beispiel der Befreier vom römischen Joch, Hermann der Cherusker, steht mit seinem langen Schwert noch immer da, wo er seit 1875 als steinernes Denkmal Germaniens Macht demonstriert: auf einem Gipfel des Teutoburger Waldes. Aber wir schlauen Zeitungsleser wissen längst: Dort haben die Germanen die Römer gar nicht geschlagen, sondern hundert Kilometer weiter nördlich, am Kalkrieser Berg, was zahlreiche gefundene Uniformteile der Römer beweisen sollen. Muß Hermann nun umziehen?
So viele Neuigkeiten, so viele neue Fragen. Jetzt schreibt mein Blatt, daß eine neuere Expertise an dem schönen Marmorkörper des Goliathbezwingers David von Michelangelo etliche Makel entdeckt hat: Er streckt das Becken zu weit nach vorn, und erst seine schwächliche Bauch- und Hinternmuskulatur! Ein körperliches Wrack, befand ein britische Experte. Shakespeare, so erschüttert mich ein englischer Literaturhistoriker, war kein großer Dramatiker, sondern ein unbedeutender Geschäftsmann. Einige der großen Dramen und der feinsinnigen Sonette habe ein anderer geschrieben, der Graf von Oxford Eduard de Vere, ein Schöngeist, Skandalbruder, Weltreisender.
Und nun gar Jesus! Der war, wie die Zeitung behauptet, kein simpler Zimmermann oder Tischler, sondern ein kleiner Bauunternehmer oder Architekt. Nichts also mit dem Mann aus dem Volke. Die Fleischverächter können sich wiederum stolz auf ihn beziehen, meinte schon vor dreißig Jahren der Hamburger Theologe Skriver, denn: Jesus war Vegetarier! Selbst beim Abendmahl gab’s nur Brot und Wasser. Karl der Große, offerierte der Leiter des Instituts für Zeitenforschung zu Nürnberg, sei nur ein geniales Phantom seiner Nachfahren, die damit ihre Macht und ihren Herrschaftsbereich ableiten wollten. Denn, so der Forscher: Es gibt keine verbürgten Belege für das 7. bis 9. Jahrhundert, die neuere Geschichte geht erst mit Kaiser Otto dem Dritten richtig los. Über vierig Prozent der Urkunden aus der Karolingerzeit sind gefälscht, und über zwei Drittel der vorhergehenden Merowingerzeit ebenfalls! Karls vermeintlicher Biograph Einhard schrieb, Karl sei ein Analphabet gewesen. Wie ist dann der Ruf Karls als Astronom, ausgezeichneter Jurist, als Kalender- und Münzreformer, Ethnologe, Latinist, Militärstratege, schließlich als Ahnherr des vereinten Europa zustande gekommen?
Ähnlich ist es auch bei Marco Polo, zu dessen Reisebericht Beschreibung der Welt eine englische Forscherin die berechtigte Frage stellt: Der Mann hat siebzehn Jahre in China gelebt – wieso dann kein Wort über das dort schon bekannte Porzellan, den wunderbaren Tee – gar über das imposante Bauwerk der chinesischen Mauer? Der Venezianer, der seinen Bericht in einem Gefängnis diktierte, hat offenbar geflunkert – und Karl May hat von ihm gelernt. Goethe, wie immer im Bilde, wußte das Phänomen zu deuten: »Läßt man sich in historische und etymologische Untersuchungen ein, so gelangt man meistens immerfort ins Ungewissere«, schrieb er an seinen Freund Zelter. Jüngst hat ein Forscher festgestellt, daß eben dieser große Dichter als letzten Satz seines Lebens gar nicht jenes klassisch schöne »Mehr Licht!« gerufen habe, sondern etwas viel Schlichteres, Menschliches. Goethe murmelte, gerichtet an seine Schwiegertochter: »Frauenzimmerchen, gib mir dein Pfötchen!«
Fragen über Fragen an die Geschichte. Zum Glück gibt’s es Zeitungen, die sie beantworten beziehungsweise der Forschung (oder der Fabulierkunst) neue Wege ebnen.