Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 25. Oktober 2004, Heft 22

Ich, der Rattenfänger

von Ove Lieh

Neulich bin ich Rattenfänger gewesen. Morgens lag eine tote Ratte, die offensichtlich einem stärkeren Gegner unterlegen war, auf meiner Wiese. Mir war sofort klar, daß ihre Familie damit unverschuldet in eine Notlage geraten war und griff ein. Ich grub den stets gut mit Küchenabfällen bestückten Kompost um, in dem ich das »Heim« der kleinen Bedarfsgemeinschaft vermutete, und an den sie sich schon so sehr gewöhnt haben mochte, daß sie ihn in seiner Üppigkeit für normal hielt und nicht mehr auf ihn verzichten wollte. Ja, vom Abfall der Wohlhabenden läßt sich’s gut leben. Man tut selbst nichts und lebt dennoch besser als jene, die sich mühen müssen, jagen gar. Aber damit war nun Schluß, nachdem ich den Kompost mit Hilfe einiger Lagen Maschendraht reformiert hatte.
Die Jungen, die ich im Nest fand, stattete ich mit deutlich mehr Eigenverantwortung aus, indem ich sie im Wald aussetzte, wo sie nicht mehr unter der Fuchtel ihrer Eltern standen und sich endlich selbst um Nahrung und die Abwehr diverser Freßfeinde kümmern konnten. Sicher würden es nicht alle schaffen, aber was soll man anfangen mit den Untüchtigen. Sie hätten auf Dauer meinen Kompost völlig überfordert. Außerdem lebt der Wettbewerb nun mal von Verlierern und vom Verlieren. Sie gehören zusammen. Da hilft es weder zu protestieren oder zu lamentieren, und es hilft schon gar kein falsches Mitleid. Sicher möchte man im ersten Moment mitleiden mit den kleinen hilflosen halbverwaisten Wesen, aber wo käme man denn hin, wenn man mit jedem solchen Wesen Mitleid hätte!? Man könnte gar nicht mehr richtig wirtschaften! Der Rattenvater wanderte übrigens ab, nachdem das bequeme Leben vorbei war. Bestimmt zu einem anderen Kompost, die alte Ratte.
Ich aber hatte meinen bitteren Job als Rattenfänger getan und hoffe nun, sollte ich zu mitleidlos gehandelt haben, auf Vergebung, von der ich aber weiß, daß sie nicht jedem zuteil wird.