Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 27. September 2004, Heft 20

Grenzbetrachtungen

von Martin Nicklaus*

Wird über die – längst Legende gewordene DDR – gesprochen, pendelt die Meinung gern mal zwischen zwei Amplituden. Eine davon markiert das Buch Opa war kein Nazi von Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall. Ostdeutsche Interviewpartner in hohem Alter setzen zur Relativierung ihrer Angepaßtheit an das Nazi-Regime – oder gar ihrer Verstrickung – die DDR mit Hitlerdeutschland gleich. Weil die Enkel schön bei Honecker mitmachten, dürften sie sich nicht über die Mitläufer von 1933 bis 1945 aufregen. Dieser Lesart folgend hätte also der SED-Staat einen Weltkrieg angezettelt, KZs errichtet und versucht, alle Anhänger einer Glaubensgemeinschaft auszurotten. Natürlich sollte sich zu solcher Argumentation nur hinreißen lassen, wer in schwerster emotionaler Bedrängnis steckt und jederzeit auf geistige Umnachtung plädieren kann. Nichtsdestoweniger existiert diese Ansicht.
Ganz anders die Schönschreiber. Da geistert ein Buch mit dem Titel Spur der Broiler durch die Läden. Unausgegorenes Zeug, mit dem einer debilen Spaßgesellschaft die DDR als Ferienlager beschrieben wird. Die anspruchsvollere Version dazu liefert Jana Hensel, deren Zonenkinder in einem Land groß wurden, das irgendwo am Fuße eines grauverwaschenen Regenbogens gelegen haben muß. Ein Reich der Opportunisten, die auch im Westen auf beide Füße fallen. Gestern begeisterter Jungpionier in kompletter Uniform, heute Studium im Ausland. Die immer alle Gelegenheiten nutzten, angepaßt zu sein, und immer Spaß dabei hatten. Niemals ein konträrer Gedanke – Würde und Selbstachtung unbekannt.
Von ganz anderem Kaliber ist die Darstellung eines Mannes, der von seinem Schreibtisch aus ein todbringendes Unternehmen führte. Er ist Prediger der Normalität, versuchte bereits bei der ersten Präsentation seines gerade veröffentlichten Buches zu erklären, wie alles nicht war. Der ehemalige Chef der Grenztruppen der DDR, einst Generaloberst, möchte zu gern allen Menschen erklären, daß es keinen Schießbefehl gab. Was dabei rauskommt, ist eine Art Leuchterreport in ostdeutsch. Zur Erinnerung: Leuchter, ein US-Experte für Hinrichtungen, erklärte im Auftrag einiger Neonazis, in Auschwitz sei nie ein Mensch vergast worden, weil das technisch gar nicht möglich war. Hier tritt an die Stelle geistiger Umnachtung der unbedingte Wille zur Geschichtsklitterung. Ähnlich, wie gesagt, liegt die Sache hier.
Was es in der DDR sehr wohl gab, war ein Grenzgesetz, dessen Paragraph 27 gegenüber Grenzsoldaten die Forderung erhob, jeglichen Fluchtversuch, im Originaltext als »Verbrechen« bezeichnet, zu unterbinden. Mit allen Mitteln. Dazu bekamen junge Burschen, nur nach dem Gesetz keine Kinder mehr, eine vollautomatische Waffe in die Hand gedrückt. Wer da nicht im Elternhaus mit dem Gebot Du sollst nicht töten in Kontakt gekommen war, stand der Indoktrination einer halbjährigen Grundausbildung, die einem aufs Genaueste beibrachte, was unter einem »Verbrechen« zu verstehen ist und wie skrupellos und brutal die »Verbrecher« vorgehen, schutzlos gegenüber. Der Autor spricht prosaischer, als ließe sich dadurch eine Art Volksheer herbeimystifizieren, die Geschichte der Grenztruppen sei von hunderttausenden junger Bürger der DDR geschrieben worden. Mag sein, nur waren die jungen Bürger in den meisten Fällen nicht freiwillig dabei.
Als Begründung für das Grenzregime führt der Exgeneral die These von der Bedrohung durch den Klassenfeind, die NATO, an. Die Ausrichtung der Selbstschußanlagen und die Neigung des Überkletterschutzes auf den Zäunen sprachen eine andere Sprache.
Eigentlich sollte ein hoher Offizier nach vierzehn Jahren Zeit zum Nachdenken etwas mehr von der Welt begriffen haben. Aber die Reife des Geistes dieses ranghohen ostdeutschen Militaristen scheint nicht ein Grad fortgeschritten zu sein. Wenigstens so viel Realität sei hier kurz eingeblendet: Die Grenztruppen waren nie in der Lage, eine Invasion aufzuhalten. Dazu fehlte es an entsprechender Bewaffnung, sonstiger Ausrüstung, Personal und eben einer Führung, die mit solch einem Ausnahmezustand hätte umgehen können. Die einzige Aufgabe der Grenztruppen war es, Mitbürger, Nachbarn, Landsleute daran zu hindern, ihrer Wege zu ziehen. Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt … Der offizielle Zuruf aus der Dienstanweisung lautete förmlicher: »Halt, Grenzposten, stehenbleiben oder ich schieße!« Nach Nichtbefolgung dieses Rufes folgte ein Warnschuß, dann galt »Feuer frei«.
Der Schießbefehl, von dem der General nichts weiß, beweist sich ebenfalls durch eine Reihe von Ausnahmezuständen, die einen Schußwaffengebrauch untersagten: gegen Kinder, bei Gefährdung Unbeteiligter, wenn das Territorium des Nachbarstaates im Schußfeld lag. Interessant ist der Begriff »Nachbarstaat«, suggeriert er doch Normalität, als sei an der Grenze zu Polen oder der CSSR ebenfalls geschossen worden. Gegenüber Jugendlichen und Frauen sollte die Waffe »nach Möglichkeit« nicht eingesetzt werden. Vereitelte Fluchtversuche endeten für den Grenzer mit einer Belobigung, gelungene mit einem Termin vor dem Militärgericht. Bautzen, der Stasiknast, oder das Militärgefängnis in Schwedt waren auch für Grenzsoldaten eine Bedrohung.
Schießen war in der Grenzausbildung so wichtig, daß man mit dem Training nicht mal bis zur Vereidigung der Rekruten wartete. Und das Allererstaunlichste: Es gab, um Munition zu sparen, elektronische Schießanlagen, die, im Gegensatz zu den Kraftfahrzeugen, ständig funktionierten.

Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall: Opa war kein Nazi, Fischer Frankfurt/Main, 10,90 Euro.
Jana Hensel: Zonenkinder, Rowohlt Verlag Reinbek bei Hamburg, 6,90 Euro.
Peter Freitag, Klaus-Dieter Baumgarten (Hrsg.): Die Grenzen der DDR, Geschichte, Fakten, Hintergründe, edition ost, 19,90 Euro.

*Grundausbildung bei den Grenztruppen in Eisenach von November 1985 bis April 1986, anschließend bis April 1987 Pionierkompanie im Erfurter Grenzkommando Süd, dort ohne Waffe.