Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 13. September 2004, Heft 19

Politische Eierkultur

von Ove Lieh

In einer Vorlesung zum Thema Gesundheitserziehung erzählte uns Studenten einst ein trockener Alkoholiker seine Geschichte. Der absolute Tiefpunkt sei für ihn erreicht gewesen, als er angefangen habe, seinen Kindern Geld aus der Spardose zu stehlen, um Getränke zu kaufen. Darüber schämte er sich so, daß er sein Leben von Grund auf änderte.
Auch die Bundesregierung hat sich inzwischen entschlossen, armen Kindern nicht mehr alles Geld aus dem Sparschwein zu ziehen, damit sie ihre Eltern ernähren können; doch im Unterschied zu unserem Referenten bekommt sie ihre Sucht nicht in den Griff, die so viele so teuer zu stehen kommt.
Aber sie hat ja auch andere Probleme. So werfen verblendete Ostdeutsche mit Eiern nach der politischen Kultur. Der Kanzler versuchte zwar noch, sich schützend zwischen Ei und Kultur zu werfen. Vergeblich! Sein Vorgänger hatte da körperliche Vorteile. Nun aber sei die politische Kultur vom Eierwurf gefährdet. Beschädigt gottlob noch nicht. Das hätte mich auch gewundert bei einer politischen Kultur, die darin besteht, Wähler regelmäßig vor Wahlen zu belügen und danach zu beschimpfen, den politischen Gegner zu verleumden, die eigenen Leute zu mobben, Geld zu veruntreuen, sich korrumpieren zu lassen, Postenschacher zu betreiben, Phrasen zu dreschen, arme Leute zu piesacken und auszuplündern, Kritiker zu denunzieren und totzuschweigen, Andersdenkende auszugrenzen und so weiter.
Ein Eierwurf wird daran wohl nichts ändern.
Aber immerhin, nun, da die Früchte ihres damaligen Zorns reifen, laufen sie wieder durch die Gegend und rufen allen zu, daß sie das Volk seien. Ja, ja möchte man sagen, das bezweifelt doch auch niemand ernsthaft! Ganz im Gegenteil, man geht mit Euch um, wie man mit einem Volk eben umgeht: Man verkauft es für dumm, verwertet es, solange das profitabel erscheint, belügt es, betrügt es, schickt es in den Krieg, beruhigt es, hofiert es, wenn es nützlich scheint, plündert es aus und verhöhnt es, läßt es wählen und schimpft dann, weil es wieder falsch gewählt hat. Was wollt Ihr noch? Haben wir vielleicht eine Volksrepublik? Oder, habt Ihr Eigentum? Ach so, das hat man Euch relativ widerstandslos weggenommen, kurz nachdem Ihr damals umgegangen seid und Euch ausgerufen habt. Man hatte also Grund zu der Annahme, daß das Volk kein Eigentum will, jedenfalls kein großes. Das würde ja auch zu etwas verpflichten, sagt das Grundgesetz, das immer noch nicht zur Verfassung herangewachsen ist. Auch den Staat übrigens! Weil er das aber nicht mehr will, verschleudert er sein Eigentum, senkt Steuern vor allem für Reiche, damit ihm ja kein neues Eigentum mit den anhängenden Pflichten zuwächst. Damit ist er dann zu nichts mehr verpflichtet. Kleinen Leuten nimmt er auch das Eigentum. Die bleiben aber trotzdem verpflichtet. Nämlich zur Arbeit. Vor allem zu solcher, mit der man kein nennenswertes Eigentum erwerben kann. Sonst wären Sie ja wieder verpflichtet. Vor allem dazu, dieses Eigentum in Fragebögen zu erwähnen. Allerdings wären sie dann in überschaubarer Zeit auch wieder davon befreit. Nun sage noch einer, die Reformen wären konzeptionslos!
Was soll das Volk aber nun tun, wenn es nicht reicht zu rufen, daß es eben es selbst sei?
Der kürzlich verstorbene Wolfgang Ullmann schrieb in der Weltbühne vom 2. Oktober 1990 darüber, was man von den Ostdeutschen verlangt: »Vergessen, was sie erlebt haben, und sich anpassen an das, was von ihnen verlangt wird. Verlangt wird vor allem dies: ja nicht über Verfassungsänderungen oder gar über eine neue Verfassung zu diskutieren. Wie sollten sie sich auch so etwas herausnehmen inmitten von Leuten, die – man bedenke! – schon über vierzig Jahre die freiheitlichste aller Verfassungen auf deutschem Boden zwar nichts weniger als unverändert, aber doch mit immer gleichem Bekennerpathos in ihrem Mund führen, sollten auch ihre Taten nicht immer das gleiche Ausmaß von Konformität mit diesem Grundgesetz zeigen.«
Ähnliches trifft auf die Wirtschaftsordnung zu, die zwar nicht als die freiheitlichste, wohl aber leistungsfähigste und wohlstandsträchtigste gilt. Hartz IV ist dagegen nur die (Speer-)Spitze des Eisbergs, zu dem das einstmals große warme soziale Herz der SPD erstarrt ist.
Jetzt gilt es aber nachzuholen, was versäumt wurde! Grundsätzlich!
Als Volk darf man unbescheiden sein, mehr zu wollen!