von Thomas Falkner
Vor langer Zeit, in der Mitte des letzten Jahrzehnts des vorigen Jahrhunderts, gab es in Brandenburg einen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe. Der warnte mit schöner Regelmäßigkeit seinen christdemokratischen Kanzler Helmut Kohl, teils auch seine eigenen Parteifreunde im Westen, vor einem »heißen Herbst« in Ostdeutschland. Seine ostdeutschen Schäfchen, so meinte der frühere Kirchenfunktionär, würden all das, was an der Vereinigung von Ost und West so schief lief, nicht mehr einfach hinnehmen. Allerdings: Zu einem solchen Herbst kam es nie. Nicht unter Stolpe, nicht im vorigen Jahrhundert.
Im Jahr 2002 zog sich Manfred Stolpe aus dem Amt zurück – ins Privatleben, wie er zunächst meinte. Sein Nachfolger, Matthias Platzeck, versäumte vielerlei an politischer Abnabelung – in einer Hinsicht allerdings vollzog er sie. Er vertrat ein anderes Bild von den Ostdeutschen. Er warnte nicht mehr vor einem »heißen Herbst«, obwohl mittlerweile zu den Mißlichkeiten der Vereinigung auch all das kam, was im Land Brandenburg, teils spektakulär, gescheitert war: die Idee von der lukrativen Formel-I-Rennstrecke, vom gigantischen Transport-Luftschiff Cargo-Lifter, von der Frankfurter Chip-Fabrik. Dazu Affären, Versagen, Bereicherung einzelner …
Matthias Platzeck ist Ostdeutscher wie Stolpe, aber einer anderen Generation angehörig, jener der Vierzig- bis Fünfzigjährigen, die jetzt allenthalben politisch zum Zuge kommt und die von Ambition, nicht von Abgeklärtheit geprägt wird. Kein Wunder: Platzeck war begeistert von der These des Soziologen Wolfgang Engler, die Ostdeutschen seien im vereinten Lande jetzt eine Avantgarde.
Hier trafen sich die Neigungen des Ministerpräsidenten und die Bemühungen seiner (Wahl-)Strategen, trotz fast anderthalb Jahrzehnten sozialdemokratisch geführter Regierungen mit am Ende enttäuschender Bilanz einen weiteren Wahlsieg zu organisieren. Die SPD setzt voll und ganz auf die Person des Ministerpräsidenten Matthias Platzeck. Er ist der populärste Politiker im Lande – wie in den großen Zeiten von Manfred Stolpe und Regine Hildebrandt (und seinen eigenen als »Deichgraf«) soll er deutlich über die derzeit engen Grenzen der Partei hinaus in die Gesellschaft hinein wirken und Wählerinnen und Wähler binden. Man will an die 90er Jahre anknüpfen: Brandenburg, seine SPD und ihre Spitzen als führende Seelsorger für die Ossis, ihre Ermutiger und Verteidiger.
Der Bezug ist nun nicht mehr das Hineinwachsen in die alte Bundesrepublik, sondern die Bewältigung neuen Wandels und – unausgesprochen – auch des Traumas der sozial und wirtschaftspolitisch gescheiterten Transformation Ostdeutschlands. Zugleich wurde dabei eine offensive Wendung versucht. Ergebnis ist einerseits die Orientierung auf Finnland – den PISA-Sieger mit seiner eher wohlfahrtsstaatlich-kapitalistischen Tradition – als Leitbild für Brandenburg (und nicht Bayern, Sachsen oder Baden-Württemberg, wie von CDU-Chef und Vize-Premier Jörg Schönbohm angepriesen). Andererseits kam man zu der These, der Westen könne und müsse jetzt in diesen Zeiten der Reformen vom Osten lernen.
Aber was? »Gerade die Erfahrungen und Lehren der Jahre des Umbruchs«, so Platzeck in seiner Wahlkampfbroschüre, stellten für die Ostdeutschen »ihr kostbarstes Vermögen« dar. Als damit verbundene Kernkompetenz erscheint dann, »flexibel mit schnellem und umfassendem Wandel zurechtzukommen.« Allerdings: Bei all dem Bemühen, für die Ostdeutschen zu sprechen, hatte man versäumt, mit den Brandenburgerinnen und Brandenburgern zu reden, einfach auf sie zu hören. Die Zeiten aber, in denen die Ostdeutschen ihre Belange von den Deutern und Dolmetschern Richtung Westen vertreten lassen, sind vorbei. Sie haben sich mit vielerlei Wandel abgefunden – in der Hoffnung, all dies werde sich doch noch sinnvoll zu ihren Gunsten fügen. Hartz IV hat mit dieser Illusion gnadenlos Schluß gemacht. Hartz IV sagt dem Osten: Wer kein Glück hatte, wird auch künftig kein Glück haben. Findet euch ab. Und kommt uns nicht zu teuer … Vor dem Herbst, der der brandenburgischen SPD – gegen den Bundestrend – einen weiteren Wahlsieg bescheren sollte, kam ein heißer Spätsommer. Der rote Adler hat sich mit mächtigen Schwingen erhoben: Montag für Montag flächendeckend Demonstrationen, die rote Konkurrenz in Gestalt der PDS seit der Europawahl vom Juni 2004 mit realistischen Chancen, stärkste Partei im Land zu werden.
Und die Versuche der Sozialdemokraten, eine neue Deutungsmacht Ost zu etablieren, zerschellen an den Realitäten, weil sie gerade auf diese Entwicklung nicht eingestellt sind. Platzeck blendet Langzeitarbeitslosigkeit und die entsprechenden Erwerbslosenkarrieren als massenhafte individuelle wie familiäre Erfahrung aus seinem Denken aus. In seinem Bemühen, alles positiv zu wenden, bleibt er bei der Tatsache stehen, daß sich achtzig Prozent der Ostdeutschen seit der Wende beruflich neu orientieren mußten – daß das für sehr viele ohne nachhaltigen Erfolg geblieben, daß das Erreichte brüchig ist, sagt er aber nicht.
Die konkurrierende PDS rückt die Konsolidierung und Stabilisierung der wirtschaftlichen und sozialen Lage ins Zentrum ihrer Wahlprogrammatik. Manche Einzelforderungen korrespondieren dabei durchaus mit sozialdemokratischen Vorhaben – aber der Gesamtzusammenhang, die analytische Basis und die daraus resultierende strategische Richtung der Dinge, die Kraft des politischen Wollens unterscheiden sich. Deswegen mag es subjektiv ehrlich sein, wenn Platzeck im Wahlkampf »weitere schwere Jahre des Um- und Rückbaus« ankündigt – aus seinem Mund wirkt es aber für jene, die mittlerweile auch um ihre nach der Wende erbrachten Lebensleistungen ringen und sich von Reformen à la Hartz IV zu Recht bedroht sehen, wie eine neuerliche Bedrohung. Und sie ist es auch. Denn ohne Stabilisierung des Erreichten in der Breite wird ein Um- und Rückbau letztlich nicht funktionieren, weil nichts mehr umzubauen ist – es bliebe der Rückbau auf Null.
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