Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 19. Juli 2004, Heft 15

Meine Heimat

von Ove Lieh

Meine Heimat ist nicht nur die kleine Kneipe, deren Wirt es nicht mag, wenn ich lauthals eine Bockwurst au four oder einen Gemüseeisbecher mit Erbsen und Möhren bestelle. Ihm ist das peinlich, insbesondere wenn Touristen da sind. Allerdings sind das noch nicht so viele, außer zur Biathlon-Weltmeisterschaft. Ja, ja, den Deutschen zog es schon immer dorthin, wo geschossen wird. Vielleicht war ja der Slogan »Thüringen ist eine Reise wert« doch nicht so günstig, weil man fortsetzen könnte: »mehr aber auch nicht«. Man hätte sagen sollen: Thüringen ist viele Reisen wert! Allerdings werden manche nach den umfangreichen Waldverkäufen durch die Landesregierung denken, Thüringen wäre ein Privatgrundstück. Da ist man zurückhaltend mit Besuchen. Versicherungsfragen! Sie verstehen?! Ich sage nur: Betreten auf eigene Gefahr und Unerwünscht. Die Verkäufe waren übrigens »notwendig«, um dem Adel seine durch Ausbeutung von Bauern und sonstigen Dienstleuten, durch Krieg, Raub und weitere diverse seinerzeit (?) legale Methoden des Eigentumserwerbs angeschafften Kunstgegenstände abzukaufen. Die sind nun noch da und man könnte ihretwegen anreisen, aber die meisten reisen nicht an, sondern durch.
Im Moment allerdings reisen auch einige Leute im Lande herum und suchen ein verstecktes Feld mit Gen-Mais. Mit geringem Erfolg bisher. Kein Wunder, denn in unserer verweichlichten, also gänzlich unamerikanischen Demokratie, darf man ja nicht einmal Mais foltern, um an Informationen zu kommen. Das gilt auch für Erbinformationen.
Die interessantesten Erbinformationen stehen sowieso nicht in irgendwelchen Molekülketten, sondern in Testamenten. Und auch diese würden manche gern manipulieren. Dafür dürfte es in absehbarer Zeit allerdings keine legale Möglichkeit geben. Man wird weiter traditionell vorgehen müssen. Also schleimen, bis der Pastor kommt.
Aber unsere thüringer Demokratie ist doch schon ein bißchen amerikanisch. Unser CDU-»Landesvater«, der eine solche Erscheinung ist, daß ich ihn an meines Landes Stelle nicht einmal zum Onkel haben wollte, rief aus, daß eine »übergroße Mehrheit« der Wähler ihn gewählt habe. Und seine Partei gleich mit. Ein Unglück kommt eben selten allein. Dieser jener also, zu DDR-Zeiten übrigens Mathematiklehrer und stellvertretender Schuldirektor, gegen seinen Willen versteht sich, rechnet 43 Prozent der Wählerstimmen zu einer übergroßen Mehrheit für sich zusammen.
Das war noch Mathematik damals! Wenn man heute das Wirtschaftswachstum so berechnen würde wie wir seinerzeit die Planerfüllung, würden wir aus dem Wohlstand gar nicht mehr herauskommen.
Allerdings traue ich mich gar nicht mehr, etwas über die Zukunft zu vermuten, seit Herr Matschie (ehemaliger Spitzenkandidat der SPD bei der Landtagswahl), der bekanntermaßen die Wählerschaft der SPD derart auf ihren Kernbestand reduziert hat, daß die Fünf-Prozent-Hürde für die Partei wieder interessant wird, mitteilte: »Prognosen sind immer schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.« Richtig. Und das ganz besonders, wenn es sich um eine schwierige Zukunft handelt. Die kommt dabei heraus, wenn man wahllos am Erbgut einer Partei herummanipuliert. Sie wird dann zwar vielleicht von einigen nicht mehr angegriffen, aber andere finden sie eben zum Kotzen.
Und so etwas würde ich auch in meiner kleinen Kneipe niemals wählen.
Aber leider ist auch das alles meine Heimat.