von Gerd Kaiser
Es war einmal ein Land, Volks-Polen geheißen. Dort wußten die Untertanen der Herrscher Gomulka oder Gierek sehr wohl den Platz zu erkennen, den ein Untertan in der Gesellschaft einnahm. »Potz-Tausend-Öberste« fuhren Mercedes oder Tschaika, tranken Whisky oder Wodka und schäkerten mit den Schönen im Lande. Die »Mittelklasse« fuhr Wolga (in der DDR war dies die Klasse der »Wolga-Deutschen«), trank siebzigprozentigen Starka und zeigte sich dem jeweiligen Generalsekretär und der eigenen Sekretärin gewogen. Der Normalbürger fuhr im kleinen Fiat 125 (Polnisch: »gówniarz«, »Scheißerchen« genannt) und mußte mit der Angetrauten vorliebnehmen. Der große Rest fuhr Straßenbahn oder ging zu Fuß, nährte sich von Suppen, Schinken und Kotelett (je nachdem, was im Angebot war). Als Gomulka einmal im Vorbeifahren eine lange Schlange seiner Landeskinder sah, die nach letzterem anstand, ließ er halten und wies an, für die Schlangestehenden je Mann oder Frau der sozialistischen Wartegemeinschaft einen Stuhl herbeizuschaffen … Diese Zeiten sind vorbei. Gefahren und getrunken werden andere Marken, gesessen wird wegen anderer Delikte …
Die größte Klasse in Polen stellen heutzutage die sogenannten Unterschichten. Sie werden laut »Forschung« vom »Bodensatz« und der eigentlichen »Unterschicht« gebildet.
Dem »Bodensatz« werden bis zu zweihundertausend Personen zugerechnet; sie haben im Monat weniger als sechshundert Zloty zur Verfügung (4,50 Zloty entsprechen einem Euro). Diese »Luftmenschen« leben von sozialen Zuwendungen, den niedrigsten Renten, haben oftmals kein Dach über dem Kopf und versuchen unterzukriechen, wo es nur möglich ist. Sie kleiden sich nach Art der »Zwiebel«, das heißt möglichst mit mehreren Kleidungsstücken, die sie zumeist aus dem Müll gefischt oder vom Roten Kreuz geschenkt bekommen haben, übereinander. Sie nähren sich in kommunalen oder kirchlichen Suppenküchen. Ihre russischen »Klassenbrüder« heißen »bomshi«, eine Abkürzung, die sich aus den Worten »ohne festen Wohnort« zusammensetzt.
Die »Unterschicht« hat maximal neunhundert Zloty monatlich zur Verfügung. Sie wohnt zumeist in Sozial- oder industriellen beziehungsweise agrarischen Werkswohnungen. Seit der politischen Wende in Polen werden diese größtenteils nicht mehr instandgehalten. Ein Viertel dieser Wohnungen hat keine Warmwasserversorgung, und oftmals leben bis zu drei Generationen in einer Wohnung auf engem oder engstem Raum. Sie fahren den inzwischen steinalten Fiat 125, nähren sich zumeist von »Kartoffeln mit Sauce« sowie von Graupen-, Erbsen- und Kohlsuppen. Zum Kindergeburtstag reicht das Geld bestenfalls für einen Mc Donald’s-Besuch. Ihren »Urlaub« verbringen sie – so vorhanden – im eigenen Kleingarten. Gekleidet wird sich aus dem »Second-hand-Angebot«, das allerdings zumeist nicht aus erster Hand stammt. Nicht selten werden diese Raritäten zwischen Suwalki im Nord- und Zgorzelec im Südosten des Landes nach Gewicht verkauft. Genannt wird diese Art Kleidung »szmateks«, einer Wortverbindung aus »Textilie« und »Lumpen«. Wissenschaftler, die sich mit der Erforschung der Lebensweise dieser Schichten befassen, kommen immer wieder zu dem Schluß, daß ein sozialer Ausstieg aus dieser Schicht und insbesondere ein Aufstieg nur noch in Ausnahmefällen möglich ist.
Die »untere Mittelklasse«, ihr werden 42 Prozent aller Haushalte in Polen zugerechnet, muß mit maximal 2500 Zloty monatlich auskommen. Sie lebt in Kommunalwohnungen; auch hier oftmals zwei bis drei Generationen gemeinsam. Die Angehörigen dieser Klasse sehnen sich zumeist nach einer größeren beziehungsweise eigenen Wohnung, verfügen in der Regel jedoch nicht über die dafür notwendigen Mittel. Manche von ihnen kaufen außerhalb der Städte ein Grundstück und bauen im Laufe vieler Jahre und mit Hilfe beruflich vorgebildeter Familienmitglieder und von »Schwarzarbeitern« – in Polen sind es die »Hungerleider« aus der Ukraine und Belorußland – und unter Zurückstellung aller weiterer Wünsche ein zumeist mehr oder weniger bescheidendes Häuschen. Ihre Kleidung kaufen sie im Supermarkt, im Ausverkauf beziehungsweise als Angebot. Manche können sich einen Kleinwagen leisten, etwa einen Renault Clio oder Fiat Punto. Ihren Urlaub nutzen sie für die Bauarbeiten oder die Erholung im Kleingarten.
Die »mittlere Mittelklasse« verfügt über maximal 7500 Zloty. Ihr gehören Intellektuelle und gut ausgebildete Facharbeiter sowie Angestellte und Kaufleute an. Hier wohnt man in einer Genossenschafts- oder einer Eigentumswohnung. Ein Eigenheim, an das aus dieser Schicht junge Familien nur dann denken können, wenn beide Ehepartner Arbeit haben, kostet im Umland Warschaus zwischen 200000 und 350000 Zloty. Man fährt einen Mittelklassewagen vom Typ Lanos und kann sich ab und an einen Urlaub in der Türkei oder in Griechenland, in Slowenien oder Tunesien erlauben.
Die »obere Mittelschicht« (upper middleclass), ihr gehören etwa zehn Prozent der polnischen Haushalte an, hat maximal 15000 Zloty zur Verfügung. Sie setzt sich aus Managern, Intellektuellen, Beamten und Besitzern kleiner oder mittlerer Betriebe zusammen. Letztere verlieren allerdings zusehends an sozialem Gewicht und dementsprechend an Prestige. Denn sie sind nicht in der Lage, dem Konkurrenzdruck standzuhalten. Angehörige der upper middle class wohnen in geräumigen Eigenheimen oder vergleichbaren Wohnungen. Deren Badezimmer ist in der Regel größer als die Wohnung vieler Familien der Unterschichten, sie nähren sich von Sushi oder polnischen Delikatessen, fahren Toyota Avensis oder Opel Signum, reiten mit eigenem Pferd aus oder zerfurchen das Gelände mit einem entsprechenden Wagen und verbringen ihren Urlaub in Mexiko. In dieser Schicht kleidet man sich mit Markenwaren, etwa mit Mango, Vintage oder Dior.
Und letztlich, über allen anderen, die »Oberklasse«. Bei ihr beginnt das Einkommen bei mindestens 30000 Zloty. Ihr gehören fünf Prozent der – so unterschiedlich mit Gütern gesegneten – Landeskinder an. Standardbesitz ist ein Anwesen, man fährt Mercedes oder BMW (oder läßt sich fahren), fliegt im gemieteten Jet, hat eine Yacht und oftmals eine Harley Davidson. Man trägt eine Uhr der Firma Patek (jährlich werden in Polen etwa vierzig Armbanduhren dieser Marke verkauft), Schuhe von Sergio Rossi und ein Handtäschchen der Firma Vuitton. In gutem Geruch steht man bei seinesgleichen durch Le Vaiser usw. usf.
Schauen wir noch, was in polnischen Haushalten fehlt:
In 18 Prozent der Haushalte fehlt das Telefon, in 25 Prozent der Haushalte lebt man unter der offiziellen Armutsgrenze (insgesamt 57 Prozent der Bevölkerung fühlen sich arm), in 30 Prozent kann man sich keine Zahnbehandlung leisten, in 33 Prozent fehlt das Geld, um notwendige Arzneien zu kaufen, in 35 Prozent fehlt das Geld, um eine Theaterinszenierung, ein Konzert, eine andere Kulturveranstaltung zu besuchen, in 62 Prozent der Haushalte fährt niemand in den Urlaub, und 78 Prozent lebt ohne irgendwelche Rücklage von der Hand in den Mund … Klasse!
Statistische Angaben nach »Polityka«, Nr. 21/2004
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