Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 6. Juni 2004, Heft 12

Wahlverwandtschaften

von Arndt Hopfmann

Ein paar Mal werden wir noch wach, dann ist es mal wieder soweit – die Abgeordneten des »Europa-Parlaments« wollen gewählt werden. Natürlich geht es bei dieser Wahl gar nicht wirklich um »ganz« Europa und sein Parlament, sondern nur um die EU-Länder. Aber was macht das schon, wenn die ost- und südosteuropäische Peripherie – Rußland, Bulgarien, Rumänien und die Türkei – und die wirklich »Reichen« Europas – die Schweiz und Norwegen – nicht mitmachen dürfen beziehungsweise wollen. Aus der Perspektive der Brüsseler Kommission wird die EU schon lange mit Europa gleichgesetzt und außerdem: Das »Europa-Parlament« in Strasbourg ist weit weg – und dementsprechend gering ist sein tatsächlicher Einfluß.
Für die »Alt-EU-Europäer« ist die Diskrepanz zwischen der Allmacht der EU-Kommissare, die von den Regierungen mit List und Hintersinn ernannt werden, und der Ohnmacht der EU-Parlamentarier nichts Neues – und dementsprechend groß ist die Wahlbegeisterung. Wer will schon seine Sonntagsruhe oder gar sein Wochenendvergnügen opfern, um einer Schar zahnloser Bedenkenträger fünf Jahre lang Diäten aus der Tasche des Steuerzahlers zu sichern? Die Antwort liegt auf der Hand – nur der allerhärteste Kern der jeweiligen Parteigänger, die diese Diäten wenigstens nicht dem politischen Gegner überlassen wollen, und (vielleicht) einige Unentwegte, die unverzagt an eine mögliche Ermächtigung des EU-Parlaments glauben.
Anders und weniger abschätzbar ist hingegen das Wahlverhalten der »Neu-EU-Europäer«, deren mögliche Europa-Euphorie allerdings nicht die Zahl der den Neumitgliedsländern zustehenden Parlamentssitze erhöhen kann. Auch wenn in Deutschland nur weniger als ein Viertel der Berechtigten wählen gingen, bliebe die Zahl der deutsch zu besetzenden Sitze bei 99. Viel wahrscheinlicher als EU-phorie ist in den Betrittsgebieten jedoch ein neuerlicher Anfall von »EU-Müdigkeit«, wie sie schon im Verlaufe der Erweiterungsverhandlungen hin und wieder unübersehbar zutagetrat. Denn in diesem Zusammenhang hatte sich rasch herausgestellt und medial verbreitet, daß es eigentlich gar nichts zu verhandeln gab. Der Aquis Communitaire (das EU-Vorschriften- und Regelwerk) war von vornherein nicht verhandelbar – und deshalb ging es von Anfang an und ausschließlich um Anpassung und Übernahme. Um nichts anderes geht es auch bei der EU-Europa-Wahl. Distanz und Desinteresse wären deshalb keine Überraschung; sie wären eine Ent-Täuschung – nur der Ausdruck dessen, daß die »Neuen« ihre EU-Lektion rasch gelernt haben und die Regierungen nunmehr zur EU-Tagesordnung, nämlich insbesondere zur Einhaltung der (offenbar nur für Deutschland, Frankreich und Italien nicht unerbittlichen) EURO-Stabilitätskriterien, übergehen können.
Die EU-Bürgerin – egal ob »alt« oder »neu« – darf zwar wählen, wer in Strasbourg sitzt und wer für sie abstimmt, das Europa ihrer Wahl steht jedoch nicht zur Abstimmung. Solange sich das nicht ändert, solange mit dem EU-Parlament nicht auch die EU-Kommission in Brüssel zur Wahl steht, sollte sich niemand wundern, wenn nur wenige (und demnächst immer weniger) hingehen; da können Grüne und Linke – und vielleicht bald sogar sozial- wie christdemokratische Konservative – so viele gesamteuropäische Parteien gründen, wie sie nur wollen.