Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 6. Juni 2004, Heft 12

Alter Adam, alte Eva

von Hans-Dieter Schütt

Es ist nicht ohne Paradoxie, daß Gaus in der Lage ist, just jenen Menschen das Selbstwertgefühl zu bekräftigen, die gerade ihn vor noch nicht allzu langer Zeit möglicherweise nur als einen geschichtlich Kleinmütigen betrachtet hätten. Der Begriff der Dialektik gehörte ja zu jenen Termini, die streng oder leidenschaftlich geschulte Marxisten so ausdauernd wie angestrengt im Munde führten; blickt man auf unser zerrüttetes geschlossenes Welt- und Menschenbild zurück, fehlte dessen offiziellen Propagierungsmustern nichts mehr als ein wirklich dialektisches Verständnis von Welt und Mensch. Das heißt auch: von Werden und Vergehen.
Marxistischer Glaube wurzelte letztlich, den Geschichtsprozeß betreffend, in der mechanischen Gegenüberstellung von sozialistischem Werden und kapitalistischem Vergehen von altem und neuem Menschen. Die eigene Sache bestand scheinbar nur aus Werden; gegen das Unwägbare in der Fülle von Raum und Zeit formten wir jene trügerisch dünne Streckung mit Namen »geschichtlicher Fortschritt«. Indem es jede kreatürliche Furcht und jedes phantasievolle Staunen in bezug auf die Irrationalität des Menschen (und der von ihm gestalteten Welt) verloren hatte, konnte sozialistisches Bewußtsein so verhängnisvoll anmaßend werden. Wahrscheinlich liegt in dieser vielfach verinnerlichten Anmaßung ein Grund, daß es angesichts der gegenwärtigen Welt gerade ehemalige Marxisten sind, aus deren Seelenriß die unheilsgeschichtlichen Dämpfe und Ahnungen am stärksten entweichen. Der systematische Pessimismus als Folge davon, daß eine systematische Geschichtstäuschung aufgedeckt wurde. Nicht nur kapitalistisch rigides Siegesgebaren bedrückt, sondern die Nachwirkung eines linearen Denkens, das die Unfähigkeit einschloß, in allem Ende und Anfang zugleich zu sehen.
Die Illusion, »der alte Adam und die alte Eva könnten etwas anderes werden als wiederum ein alter Adam und eine alte Eva«, hat Gaus nie gehabt; das ist der entscheidende Punkt, der ihn sein Leben lang von den Kommunisten trennte und ihn zu allen Zeiten gegen jene Ideale feite, die zu ihrer Verwirklichung partout den neuen Menschen brauchen. Aber nie ist er unversöhnlicher Hasser dieser Idealisten geworden. Totalitäre Antikommunisten sind ihm ebenso schwer erträglich wie alle anderen totalitär Gesinnten, die das geschlossene Bild vom neuen nun gegen das des flexiblen Menschen gesetzt haben. Gaus hat nie verstanden, warum Politiker geradezu Triumphgefühl artikulieren, wenn sie feststellen dürfen, daß der Mensch nicht gut genug sei, um im Sinne der kommunistischen Utopie wirklich gut zu sein. Daß der gewöhnliche Charaktermangel, im Ernstfall mehrheitlich, in jedem System stets die Oberhand behält, davon geht er seit langem aus, »aber warum ich darüber so glücklich sein soll, begreife ich nicht«. Vielleicht sei schon die größte Utopie, Umstände herbeiführen zu helfen, in denen niemand genötigt ist, über seine Fähigkeiten hinaus etwas leisten zu müssen. Wenn, so der Publizist, die Freiheit der Schwachen hauptsächlich darin besteht, daß sie frei sind von der Angst, ungebremst ins soziale Elend abstürzen zu können, wenn diese Freiheit von Angst so gesichert bliebe, wie sie »etwa in der alten Bundesrepublik, in der frühen Welt der Westdeutschen doch gewesen ist«, wenn also US-amerikanische Verhältnisse abgewehrt werden würden – »dann wäre ich schon ganz glücklich und zufrieden für die Schwachen.«
Ein Mann wie Gaus erinnert mit seinem geschichtsphilosophischen »Bekömmlichkeitsbeharren« daran, daß es keinen unaufhaltsamen Grundstrom der Geschichte gibt, in dem diese, von sich selbst bewegt, ihren Weg findet; sie ist schon gar nicht mehr Resultat derer, die mit großer Geste im Namen dieser Geschichte handeln. Sie ist nicht das weithin hörbare Pochen im Herzen der Aktualität, wie es der Philosoph Wilhelm Schmid ausdrückt, sondern sie findet im günstigsten, also im eigentlich friedlichen Falle in der Banalität des Alltags statt, auf den verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen des Lebens, auf denen mit koordinierter Aktivität und in Auseinandersetzungen mit anderen unspektakulär die allgemeinen Bedingungen und Möglichkeiten des Lebens gestaltet werden. Brecht: Wohl dem Land, das keine Helden nötig hat.

Auszug aus dem Vorwort des 2000 bei edition ost im Verlag Das Neue Berlin von Hans-Dieter Schütt herausgegebenen Buches »Günter Gaus. Was bleibt, sind Fragen. Die klassischen Interviews«, 22,50 Euro.