von Klaus Hansen
Der 4. Juli ist der Tag der Unabhängigkeitserklärung in den USA. Er wird als Nationalfeiertag begangen. Die Erinnerung an 1776 soll wachgehalten werden. Auch die Deutschen haben ihren 4. Juli. Er ist der inoffizielle und geheime Nationalfeiertag, populärer jedenfalls als 17. Juni und 7. Oktober je waren und der 3. Oktober je sein wird. Das »Wunder von Bern« ist auf den 4. Juli datiert. Was alles hat man über die Bedeutung des Gewinns der Fußballweltmeisterschaft 1954 lesen und hören müssen! »Ein Stück Staatsgründung Deutschlands« habe an diesem Tag stattgefunden, »Westdeutschlands« war natürlich gemeint. Neben Konrad Adenauer und Ludwig Erhard, zuständig für Politik und Wirtschaft, sei Fritz Walter der »dritte Gründungsvater der Bundesrepublik«, zuständig für eine reanimierte »Wir-sind-wieder-wer«-Mentalität. Der 4. Juli 1954 sei das Gegendatum zum 8. Mai 1945 und habe dem Land, das so gerne Helden verehrt, wieder neue Vorbilder geschenkt, die »Helden von Bern«. Die allerdings waren aus ganz gewöhnlichem Holz geschnitzt: Ein risikoscheuer Melancholiker, Fritz Walter, der lukrative Auslandsangebote ausschlug, um seiner Vaterstadt Kaiserslautern treu zu bleiben und im richtigen Leben als glückloser Geschäftsmann zu scheitern. Ein rustikaler Gewohnheitstrinker, Helmut Rahn, der mit 2,7 Promille sein Auto in eine Baugrube setzte, anschließend hinter schwedischen Gardinen verschwand und sich zu einem abgezockten Gebrauchtwagenhändler entwickelte. Ein phlegmatischer Jekyll & Hyde, Toni Turek, der Gott und Teufel in einer Person war, genauer, mit den Worten des »Aus! Aus! Aus!«-Reporters Zimmermann: »Fußballgott und Teufelskerl«. Gibt es ein schöneres Kontrastprogramm zur nationalsozialistischen Vergötterung des reinrassigen Übermenschen? Wahrhaft ein Vorbild-Wunder!
Sönke Wortmanns Film Das Wunder von Bern endet mit dem Satz: »Diese Mannschaft spielte nach dem Endspiel nie wieder zusammen.« Er vergißt die viel verblüffendere Mitteilung zu machen, daß die Mannschaft auch vor dem Endspiel nicht zusammengespielt hatte. Denn in der Aufstellung des Finales war man bis dahin nur ein einziges Mal angetreten, wenige Tage zuvor im Halbfinale gegen Österreich. In der Fußballhistorie ist das einmalig, daß eine Mannschaft gleich bei ihrem zweiten Auftritt Weltmeister wird. Wahrhaft ein Erfolgs-Wunder!
Am frühen Abend des 4. Juli 1954 ist es also so weit, Außenseiter Deutschland gewinnt das Endspiel gegen die seit vier Jahren ungeschlagene und als unschlagbar geltende »goldene Mannschaft« Ungarns. 30000 entfesselte deutsche »Schlachtenbummler« singen im Berner Wankdorfstadion die erste Strophe: Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt. Neun Jahre nach den Menschheitsverbrechen des Hitlerismus. »Die Welt muß umlernen«, schreibt das Sportmagazin kicker, »Deutschland ist Fußball-Weltmacht.« Und bei der Feier des Deutschen Fußball-Bundes im Münchner Löwenbräukeller hält DFB-Präsident Peco Bauwens seine später sogenannte Sieg-Heil-Rede, in der er das »Führerprinzip« des Trainers Herberger lobt und die unerschütterliche Haltung des »Deutschtums« der Mannschaft rühmt.
Das war starker chauvinistischer Tobak. Vor allem im Nachbarland Frankreich reagierte man empört. Kanzler Adenauer, der kein Fußballfreund war, paßten die nationalistischen Töne überhaupt nicht ins Konzept. Er bemerkte zu Recht: »Manchmal richtet ein Sieg im Fußballspiel so viel Unheil an, daß die Diplomaten Monate brauchen, um den Schaden zu beheben.« In Paris drohte die ohnehin deutschlandskeptische Regierung, das westeuropäische Gemeinschaftswerk platzen zu lassen und die Aushandlung der »Pariser Verträge«, durch die unter anderem der Besatzungsstatus aufgehoben und die BRD souverän werden sollte, zu boykottieren. Da kam es gelegen, daß die deutschen Fußballweltmeister am 16. Oktober 1954 in Hannover gegen Frankreich antraten – und mit 1:3 verloren. Adenauer kommentierte zufrieden: »Diesmal hat mich Herr Herberger nicht im Stich gelassen.« Am 23. Oktober wurden die Pariser Verträge unterzeichnet; am 5. Mai 1955 traten sie in Kraft.
Auch im Jahr 1955 war, politisch gesehen, eine Niederlage im Fußball weitaus wichtiger als alle Siege. Adenauer besuchte im September Moskau, um diplomatische Beziehungen mit der Sowjetunion aufzunehmen und die Entlassung der letzten 10000 deutschen Kriegsgefangenen in die Wege zu leiten. Erneut kam es gelegen, daß zwei Wochen vorher, am 21. August 1955, der Fußballweltmeister im Moskauer Dynamo-Stadion vor 80000 Zuschauern zum Ländervergleich mit der UdSSR auflief – und 2:3 verlor. Diesmal war es nicht Adenauer, sondern Sepp Herberger, der die politische Bedeutung des Ergebnisses würdigte, so pathetisch, als habe man die Niederlage im Dienste des Vaterlandes geradezu »errungen«: »Die deutsche Fußballnationalmannschaft weiß, daß sie durch ihr Auftreten einen günstigen Eindruck in der russischen Öffentlichkeit hinterlassen hat, und lebt in dem Glauben, daß sie auch für die Verhandlungen und Rückbeförderung unserer Gefangenen mithalf, gute Voraussetzungen zu schaffen.« Drei Wochen später kehrte Adenauer zusammen mit zehntausend befreiten Wehrmachtsangehörigen zurück nach Bonn.
Aus deutscher Sicht müssen wir also konstatieren, daß die anschließenden Niederlagen bedeutsamer waren als der Sieg im Wankdorfstadion. Politisch betrachtet, verlieh erst der WM-Titel der Deutschen den darauffolgenden Triumphen der Franzosen und Sowjets ihr besonderes diplomatisches Gewicht. Auch eine Lesart des »Wunders von Bern«!
Schlagwörter: Klaus Hansen