Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 26. April 2004, Heft 9

Antonín Dvořák

von Horst Grunert

Was hat Dvořák mit der Nationalitätenpolitik des Wiener Hofes zu tun? Eigentlich nichts. Dvořák war ein stolzer Tscheche, aber auch ein loyaler Untertan der Habsburger Monarchie. 1901, drei Jahre vor seinem Tod, wurde der weltberühmte Komponist, der Entscheidendes zur Entwicklung einer nationalen tschechischen Musik geleistet hat, mit kaiserlicher Zustimmung zum Mitglied des Herrenhauses in Wien ernannt, eine Ehrung, auf die er stolz war. Kürzlich besuchte ich ein Konzert in Bratislava. Man spielte Mozart, einen Österreicher, Bartók, einen Ungarn, und Dvořák, einen Tschechen. Zum Schluß wurde ein Werk von J. L. Bella aufgeführt, einem Slowaken des 19. Jahrhunderts. Die ersten drei: weltberühmte Persönlichkeiten, ohne die das Musikleben arm wäre. Doch von dem Slowaken hatte ich nie gehört.
Ein paar Tage später konnte ich an einer Gedächtnis-Veranstaltung in Vorbereitung des 100. Todestages von Antonín Dvořák teilnehmen. Als der große tschechische Komponist am 1. Mai 1904 mit 63 Jahren in Prag starb, trauerten die Freunde der Musik in Europa und Amerika. Die Gespräche an jenem Abend rankten sich um die Frage, wieso es dem Sohn eines Schankwirts und Metzgers, der 1841 in einem böhmischen Dorf zur Welt gekommen war und nach den Plänen seines Vaters einmal dessen Gastwirtschaft übernehmen sollte, gelang, sich zu einem der bedeutendsten Vertreter des Musiklebens im 19. Jahrhundert zu entwickeln, während die Slowakei bis in das 20. Jahrhundert hinein keinen Komponisten von überregionaler Bedeutung hervorgebracht hat. Und das, obwohl die außergewöhnliche musikalische Begabung des slowakischen Volkes für jeden Besucher überall im Land, in jedem Ort, selbst auf dem Dorfanger, zu erleben ist.
Die Antwort, so erfuhr ich, sei in der Geschichte zu finden, vor allem in der widersprüchlichen Nationalitätenpolitik der Habsburger-Monarchie. Dieses Reich, zu dem so viele Völker gehörten, präsentierte sich bis 1867 als ein zentral von Wien aus regierter Einheitsstaat. In diesem Staatengebilde hatte sich der böhmische Teil in langen Auseinandersetzungen einige wichtige Rechte erkämpft. Prag wurde schon sehr früh ein Zentrum des kulturellen Fortschritts. Schon im Mittelalter war eine tschechische Schriftsprache entstanden. Das Bildungssystem war relativ hoch entwickelt. Die Universität in Prag, gegründet 1348, ist die älteste nördlich der Alpen. Das kulturelle Leben war beispielhaft für seine Zeit. Das gilt in besonderem Maße für die Musik. An allen Kulturstätten Europas sprach man von den hochbegabten Komponisten, Dirigenten und Solisten, die an der Moldau tätig waren.
Vor diesem Hintergrund entfalteten sich die musikalischen Begabungen von Antonín Dvořák. Der örtliche Organist, der die Talente des jungen Antonín entdeckte, konnte den Vater nur deshalb überreden, seinen Sohn für eine musikalische Ausbildung freizugeben, weil er in der Lage war, mit einem Platz an der Orgel-Schule des Konservatoriums in Prag zu locken. 1862 konnte Dvořák unter der Leitung seines Förderers Smetana am Prager Opernhaus, aus dem später das Nationaltheater hervorging, vielfältige Erfahrungen sammeln. Als 1896 die Tschechische Philharmonie gegründet wurde, ein weiterer Beweis für das reichhaltige kulturelle Leben, das sich in Böhmen lange vor der Unabhängigkeit entwickelt hatte, wurde Dvořák, der inzwischen in England und Amerika triumphale Erfolge errungen hatte, mit der Leitung betraut.
Ganz anders war die Lage in der Slowakei. Das Land südlich der Karpaten galt als Teil Ungarns und wurde wie eine Kolonie behandelt. Der ungarische Adel, der sich einerseits tapfer gegen die Bevormundung durch den Wiener Hof zur Wehr setzte, behinderte andererseits die Entwicklung eines eigenen slowakischen Lebens auf brutale Weise. Mit Verboten und Schikanen versuchten die ungarischen Behörden bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, das Entstehen einer slowakischen Schriftsprache zu unterbinden.
Als die Ungarn 1867 schließlich den sogenannten Ausgleich mit Wien und damit ein dualistisches System erzwangen, das ihnen die Rechte eines mit Österreich gleichberechtigten souveränen Staates zubilligte, nur durch die Krone mit Habsburg vereint, verschärften sich in Budapest die Anstrengungen, den nördlichen Nachbar zu magyarisieren. Erst 1919, nach dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, wurde damit begonnen, die wirtschaftliche und kulturelle Rückständigkeit der Slowakei zu überwinden.
Wie man die Vereinigung der Slowakei mit Tschechien zur Tschechoslowakei auch beurteilen mag: Das kulturelle Leben in dem Land südlich der Karpaten hat sich seitdem stark entwickelt. Die Zeiten, da die Slowakei eine terra incognita war, sind längst vorbei. Bratislava hat sich zu einem eindrucksvollen kulturellen Zentrum an der Donau entwickelt. Slowakische Künstler sind überall in der Welt geschätzte Gäste. Wiener Opernfreunde, denen der Besuch im heimischen Opernhaus an der Ringstraße zu teuer geworden ist, füllen die Oper in Bratislava auf eine Weise, daß die Slowaken Mühe haben, Karten zu ergattern.
Doch das Mißtrauen, das aus der Zeit stammt, als Ungarn eine Unterdrückungspolitik gegenüber den Slowaken betrieb, wirkt noch nach – nur ein Beispiel, wie schwer es ist, den Hader zwischen benachbarten Nationen abzubauen, der sich in Jahrhunderten entwickelt hat. In Europa und anderswo. Doch das ist schon wieder eine andere Geschichte.