von Robert Sommer
„…wenn wir draußen unseren Freunden und Angehörigen diese Geschichte erzählen, glauben sie es nicht, und dennoch ist es schamlose Wirklichkeit.“
Erich Roßmann
1941 befahl der Reichsführer-SS und Herr über die NS-Konzentrationslager, Heinrich Himmler, die Errichtung von Bordellen für KZ-Häftlinge. Der Grund dafür waren die ökonomischen Interessen der SS. Die KZ waren nicht nur Orte des Terrors und des Massenmordes, sondern auch Stätten der Zwangsarbeit. Die SS hatte ein gewaltiges Wirtschaftsimperium aufgebaut, das Himmler und seiner SS die finanzielle Unabhängigkeit sichern sollte. Zwangsarbeit war das Rückgrat dieser Wirtschaft. Häftlinge mussten in Steinbrüchen Granit abbauen oder in Ziegeleien Klinker herstellen, welche Adolf Hitler für seine Großbauprojekte benötigte. Ab 1943 verlieh die SS Häftlinge an deutsche Rüstungsbetriebe. Das Problem war jedoch, dass die Produktivität angesichts der katastrophalen Lebensbedingungen und der permanenten Gewalt viel zu gering war. Himmler wollte Anreize für die KZ-Häftlinge schaffen und ließ Lagerbordelle errichten.
1943 erließ Himmler eine „Prämien-Vorschrift“ für das gesamte KZ-System. Der zufolge konnten Häftlinge bei besserer Arbeitsleistung einen Haarschnitt tragen, mehr Briefe erhalten, Lebensmittel und Zigaretten in der Lagerkantine erwerben sowie ein Bordell besuchen. Bis zum Ende des Krieges öffnete die SS in insgesamt zehn KZ Bordelle für Häftlinge: in Mauthausen, Gusen, Flossenbürg, Auschwitz-Stammlager, Buchenwald, Auschwitz-Monowitz, Dachau, Neuengamme, Sachsenhausen und Mittelbau-Dora.
Frauen für Bordellkommandos rekrutierte die SS im Frauen-KZ Ravensbrück und im Frauenlager Auschwitz-Birkenau. Dabei machte sie Zusagen auf Entlassung nach einem halbjährigen Bordelldienst, hielt dieses Versprechen jedoch nie. Verstärkt selektierte die SS auch ahnungslose Frauen für Bordelle. Insgesamt waren etwa 210 Frauen in Lagerbordellen. Die meisten von ihnen waren deutscher Herkunft, andere stammten aus Polen und der Sowjetunion. Jüdische Frauen selektierte die SS nicht, denn männliche Häftlinge jüdischer Herkunft durften das Bordell nicht besuchen. Sie waren in das KZ zur Vernichtung gebracht.
In den jeweiligen Männerlagern waren die Frauen in der Bordellbaracke eingesperrt. Tagsüber mussten sie die Baracke reinigen oder Socken für die SS stopfen. Wochentags nach dem Abendappell war das Bordell für zwei Stunden geöffnet, sonntags den ganzen Nachmittag. Zu den Öffnungszeiten mussten die Frauen in ihren Zimmerchen auf die Männer warten. Nach jedem Mann mussten sie sich mit Seifenlauge spülen. Sonst gab es keine Verhütung. Im Falle einer Schwangerschaft zwang die SS die Frau zur Abtreibung. Regelmäßig wurden die Sex-Zwangsarbeiterinnen auf Tripper und Syphilis untersucht. Dabei ging es der SS nicht um das Wohl der Frauen, vielmehr wollte sie eine mögliche Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten in den Lagern verhindern.
Für einen Bordellbesuch hatte ein männlicher Häftling einen offiziellen Antrag zu stellen, der vom Lagerführer genehmigt werden musste. Der Häftling hatte zwei, später nur noch eine Reichsmark für den Bordellbesuch zu bezahlen. Den Betrag musste er durch Prämienscheine begleichen, die für eine bessere Arbeitsleistung ausgezahlt wurden.
Die SS stellte für jeden Abend Bordelllisten zusammen. Die Nummern der zugelassenen Häftlinge wurden auf dem Abendappell verlesen. Nach Ende des Appells marschierten die Bordellbesucher geschlossen zum Bordell. Dort erhielten sie von einem Arzt eine Spritze oder bekamen eine unbekannte Salbe auf ihre Genitalien geschmiert, wahrscheinlich gegen Geschlechtskrankheiten. Dann wies ein SS-Wachmann die Männer einem Zimmer zu, vor dem sie in einer Reihe warten mussten. Dabei wurde auch auf die Rassengesetze geachtet: so durfte ein deutscher Häftling nur zu einer deutschen Frau und ein Pole nur zu einer slawischen Frau. Wenn ein männlicher Häftling an der Reihe war, durfte er 15 Minuten bei der Frau bleiben. Erlaubt war nur die Missionarsstellung. Durch einen Spion in der Tür überwachte ein SS-Mann die Einhaltung der Regeln.
Nur einem Teil der Häftlinge war der Besuch eines Lagerbordells gestattet, den Deutschen und Österreichern, Polen, Skandinaviern und andere Westeuropäern. Jüdischen Männern und sowjetischen Kriegsgefangenen war der Bordellbesuch streng verboten. Die große Mehrheit der Häftlinge interessierte sich nicht für das Bordell. Sie litten an Hunger, waren erschöpft oder lehnten einen Bordellbesuch aus moralischen Gründen ab. In Buchenwald gab die Führung der illegalen Kommunistischen Partei die Parole heraus, das Bordell nicht zu besuchen. Die meisten Genossen hielten sich daran – aber auch nicht alle. Nach dem Krieg war dies Gegenstand einer Untersuchung der Parteikontrollkommission der SED, die das Verhalten von Kadern während der KZ-Haft untersuchte. So wurden mehrere Buchenwalder Bordellbesucher gerügt.
Wie aus Akten der SS hervorgeht, besuchte meist weniger als ein Prozent der männlichen Häftlinge eines KZ das Bordell. Trotz des Aufwandes der SS, waren also die Lagerbordelle eine Randerscheinung des Lagerlebens und trugen nicht merkbar zur Steigerung der Arbeitsproduktivität bei. Dennoch ist dieses Thema für die Geschichtsschreibung wichtig, denn die SS erweiterte die totale Ausbeutung der Arbeitskraft der männlichen Häftlinge um die sexuelle Ausbeutung der Frauen um erstere zu steigern. Und sie machte Opfer zu Tätern.
Fast alle Frauen überlebten die KZ-Bordelle, denn die Lebensbedingungen waren dort hinsichtlich der Versorgung und der hygienischen Bedingungen besser als etwa in Ravensbrück. Auch machten männliche Häftlinge den Frauen Geschenke – natürlich für Gegenleistungen – wodurch die Frauen mehr Nahrungsmittel bekamen. Doch da waren die „verfluchten Stunden am Abend“, wie Frau W., eine ehemalige Sex-Zwangsarbeiterin aus dem KZ Buchenwald die Öffnungszeiten des Bordells nannte. Sie überlebte das Bordell und die KZ-Haft, aber zu welchem Preis. „Heute lebe ich noch, aber wie“, sagte sie 1990 in einem Interview, wenige Wochen vor ihrem Tode.
Oft setzte sich der Leidensweg der Sex-Zwangsarbeiterinnen nach der Befreiung fort. Viele erhielten nach dem Krieg keine Entschädigung, oft, weil sie als „Asoziale“ eingesperrt waren und damit in der BRD vom Bundesentschädigungsgesetz ausgeklammert waren. In der DDR wurden ehemalige „asoziale“ Häftlinge nur dann als Verfolgte des Nationalsozialismus anerkannt, wenn sie sich in die Gesellschaft der DDR integrierten. Und so schwiegen die Frauen über die KZ-Haft und den Aufenthalt in einem Lagerbordell. Es ist nur ein einziger Fall bekannt, in dem eine ehemalige Sex-Zwangsarbeiterin in einem Lagerbordell einen Entschädigungsantrag in der BRD stellte und darin auch das Leiden in einem KZ-Bordell schilderte. Allerdings wurde dieser Antrag abgelehnt, weil sie zur Zeit ihrer KZ-Haft staatenlos war, denn ihre Mutter war Deutsche und der Vater Pole. Es schwiegen auch die polnischen und sowjetischen Frauen der Lagerbordelle aus Angst, als Kollaborateurinnen stigmatisiert oder gar verfolgt zu werden.
Weitgehend verschwiegen wurden die Lagerbordelle auch in beiden deutschen Nachkriegskulturen. Das Thema KZ-Bordelle war viele Jahre ein besonderes Tabu in den Geschichtsschreibungen und ein besonderes Problem für Gedenkstättenpädagogen. Man wollte kein falsches Bild vom Leben der Häftlinge vermitteln. Die Bordellbaracken wurden oft aus der Topografie des Häftlingslagers gelöscht, so etwa in Dachau, Sachsenhausen oder Auschwitz. Besonders schwierig war der Umgang mit dem Thema Lagerbordelle in der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald. Das Lager wurde durch die Selbstbefreiung zum Sinnbild des Widerstandes der Kommunisten gegen das NS-Regime und avancierte zum zentralen Gründermythos der DDR. Wie hätte man da über ein Bordell für Häftlinge sprechen können, zumal auch ehemalige KPD-Funktionäre dieses besucht hatten? Und so wurden Mitarbeiter der pädagogischen Abteilung bis 1989 angewiesen, das heikle Thema während der Führungen zu verschweigen.
Heute wird das Thema mehr und mehr in der musealen Darstellung der Geschichte der KZ berücksichtigt. Einzelne Gedenkstättenpädagogen verstehen dieses Thema sogar als „Türöffner“, um so das Interesse von Schülern am Leben in den KZ zu erzeugen. Denn wie man sieht, relativiert das Thema nicht den Terror der SS, sondern zeigt vielmehr, mit welchen verschiedenen und perfiden Formen der Gewalt Häftlinge gequält wurden. So endet das lange Schweigen, und dies ist ein erster Schritt, den vergessen Opfern der Lagerbordelle, ein Stück ihrer Würde wieder zugeben.
Der Autor ist Historiker und lebt in Berlin. Von ihm erschien: Das KZ-Bordell. Sexuelle Zwangsarbeit in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, Schöningh-Verlag, Paderborn 2009, 445 Seiten, 39,90 Euro.
Schlagwörter: KZ, Lagerbordelle, Robert Sommer, sexuelle Zwangsarbeit