Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 12. April 2004, Heft 8

Blickwechsel

von Elke Sadzinski

Es gibt Stimmungslagen, da scheint ein Spaziergang geeignet, Licht ins Dunkel zu bringen. Dann treibt es mich an Ecken dieser Stadt, mit denen ich eine offene Rechnung habe. Nach der Wende war das eine beträchtliche. Sie betraf ganz Westberlin. Eine besondere Rechnung aber hatte ich mit der Topographie des Terrors. Ein großer Teil meines Arbeitslebens fand in ihrem unmittelbaren Umfeld statt.
Eine gleichnamige Ausstellung lief Ende der achtziger Jahre in der Stadtbibliothek. Sie sollte uns Ostberlinern die Geschichte eines Areals nahebringen. Eines Areals, das unweit von jenem gelegen war, an dem wir die Ausstellung besuchten. Ich arbeitete bei einer außenpolitischen Zeitung, und deren Leitung legte zuweilen Wert darauf, der Redaktionsmannschaft Bildung zu verabreichen. Das nannte sich gesellschaftliche Arbeit und beinhaltete nicht immer Sinnvolles. Mehr oder weniger amüsiert folgte die Masse dem Treiben, somit wenigstens der Schreibtischarbeit entronnen.
Ich erinnere ein Gefühl der Trotzigkeit, als ich vor den Stadtplänen stand, Namen von Straßenzügen las, Gebäude in diesen verzeichnet fand, in denen deutsche Geschichte blutige Spuren hinterließ. Dennoch konnte ich alles zu keinem Ganzen zusammenfügen. Diese Trotzigkeit kam von tief drinnen. Etwas in mir wollte die betrachteten Fotografien nicht annehmen, da man mir die zwanzig Minuten entfernte Wirklichkeit verweigerte. Eine befreundete Kollegin, die meine Unlust hinterfragte, fand meine Reaktion unverständlich und pubertär. Kann sein, sie war es, aber ich kam nicht dagegen an, verließ die Ausstellung – und hatte nichts begriffen. Ich wußte dumpf, es hatte etwas zu tun mit einem Gefühl aus meiner Lehrzeit …
Ich stand am Toilettenfenster des Betriebs, in dem ich den Handsatz erlernte. Die Fenster waren vergittert und ragten in den Mauerstreifen entlang der Zimmerstraße am Checkpoint Charlie hinein. Merkwürdig, ich wußte, ich stand irgendwie zwischen den Welten, mit den Füßen und dem Körper real im Osten, auf jener Toilette eben, häßlich und müffelnd, wie fast alle Betriebstoiletten im Osten. Mit dem Blick aber, mit meiner Wahrnehmung, war ich im Westen, sah auf den Doppelstockbus, den es bei uns nicht mehr gab. Er war mir aus der Kindheit noch gut in Erinnerung, weil ich immer ungeduldig nach oben stürzte, begierig, in der ersten Reihe Platz zu nehmen. Wenn diese schon besetzt war, fiel meine Ungeduld in sich zusammen, und die ganze Busfahrt war dann kein Abenteuer mehr, sondern schnöde Beförderung. Die begehrten Busse waren Relikte aus dieser fernen, köstlichen Zeit.
Nun fuhren sie in einer Welt, die mir unbekannt war und die ich nicht betreten durfte. Über die ich Propaganda kannte, negativen Inhalts selbstverständlich. Es war die Welt des Klassenfeinds, vor der man mich schützen wollte, hier in meinem Teil der Stadt. Die Gitter vor dem Toilettenfenster waren Teil dieses Schutzes. Das war eine von den Verlogenheiten, die ich lange hinnahm, ohne je wirklich darüber nachzudenken. Sie waren Normalität. Der Blick hinüber in den Westen weckte in mir keine Begehrlichkeiten außer der, wieder einmal in einem solchen Bus fahren zu können. Ich stand am Fenster und schaute – mehr mit dem Interesse, das man einem Ameisenhaufen und seinem umtriebigen Hin und Her widmet, denn auf eine Örtlichkeit, zu der es einen hinzieht.
Nach der Lehre schaute ich wieder durch ein vergittertes Fenster auf das andere Ende der Zimmerstraße. Der Verlag, in dem ich arbeitete, ragte mit einem Flügel ebenfalls in den Mauerstreifen und gab den Blick auf das Springer-Hochhaus frei, den Hort des Bösen und der Lügen. Das Zimmer, in dem ich am Fenster stand und hinausstarrte, war nicht meins. Die Insassin, eine ältere Kollegin, parteizugehörig und zuverlässig, gab mir Ratschläge, mein künftiges Studium betreffend. Dann fragte ich sie nach ihrem vergitterten Dasein und wie sie es erträgt. Das nähme sie nicht mehr wahr, aber das neurotische Jaulen der Hunde, die an Führungsleinen durch den Mauerstreifen hechelten, sei sehr belastend. Fast, daß sie erschrak über so viel Vertraulichkeit; es hat nie wieder ein ähnliches Gespräch gegeben.
Am 10. November 1989 betrat ich das erste Mal, seit ich erwachsen war, Westberliner Territorium. Etwas ließ mich zögern, sofort hinzustürmen, wie die meisten Mitmenschen es taten. Es war wie eine Ladehemmung, ich war nicht in der Lage, wirklich zu begreifen, was passiert war. Keine helle Begeisterung, eher eine unbestimmte Ängstlichkeit
hatte von mir Besitz ergriffen. In Begleitung eines Freundes, der mich mitnahm, holte ich am nächsten Abend nach, was am 9. November offenbar schon alle getan hatten.
Er kannte Westberlin gut, denn er gehörte zu jenen Journalisten, die mit einem Reisevisum ausgestattet waren. Ich neidete es ihm nie, hörte stets interessiert seinen Reiseberichten zu, brachte er mir doch von Zeit zu Zeit die Welt herein – geschildert durch seine Brille, wohldosiert und gänzlich ungefährlich für mich. Ich konnte es mit Interesse hören und betrachten, das Leben, das da vor mir ausgebreitet wurde. Es hatte mit meinem Leben nichts zu tun.
Nun war ich also physisch »drüben«. Wo willst du hin, fragte er, und ich antwortete spontan, daß es zunächst all jene Orte sein sollten, die etwas mit mir zu tun hatten. Das war herzlich wenig, eigentlich nur ein Blickwechsel. Ich wollte das Vis-à-vis zweier vergitterter Fenster und den Reichstag. Dieses Monstrum, in dessen Betrachtung ich oft auf unserer Seite der Mauer stand, es nie schön fand, dennoch imposant durch seine Geschichte. Zwischen zwei Fenstern, ihm und mir lagen eine Grenze, eine Ideologie und ein Schießbefehl. Wir fuhren also zu meinen drei Orten, ich stand lange dort, schaute hinüber in den Osten. Die Betrachtung löste nichts aus, kein Gefühl, weder Freude noch Trauer. Es waren einfach nur vergitterte Fenster. Der Reichstag war nur ein Gebäude, das ich zwar begreifen konnte, aber diese Berührung bewirkte nichts. Alles war scheinbar so normal. Allmählich und sehr zögerlich begann ich, mir bestimmte Orte emotional zu erschließen, indem ich sie mir erlief. Dazu gehörte auch die Topographie des Terrors.
Es war Frühjahr 1991, ich war zum ersten Mal arbeitslos und hatte Zeit. Ich stand vor den freigelegten Kellerräumen, die in den Erzählungen unseres Nachbars in meiner Kindheit eine Rolle gespielt hatten. Hatte einer dieser Kellerräume zu tun mit der Silberplatte, die er im Schädel trug? Auf die er manchmal lachend klopfte und sich amüsierte, daß wir Kinder uns ängstigten, wenn jenes trockene »plop« erklang. Hatten sie ihn hier zusammengeschlagen, bevor er ins KZ kam? Seine Erzählungen und sein Jähzorn, dessen Opfer ich oft wurde, haben mich zu sehr geängstigt, als daß ich je etwas hinterfragt hätte. Schlimmer noch, ich glaubte ihm nicht. Ich konnte nicht glauben, daß die Mappe mit sensiblen Blumenzeichnungen, die er mir zeigte, im KZ entstanden war. Meine Lehrer und viele Bücher hatten mir anderes vermittelt. In dieses Bild paßten Blumenzeichnungen nicht hinein. Nun war mir die Wirklichkeit des längst verstorbenen Nachbars wieder nahegerückt. Ich war seltsam aufgewühlt und beschämt.
An den Kellern, vor denen ich mich befand, stand an der Mauerwand darüber: Honecker, wir kriegen Dich! Jemand hatte es hingesprayt. Dieser Spruch für einen, der vielleicht auch mit diesen oder ähnlichen Kellern Bekanntschaft machen mußte. Und dennoch seine spätere Macht so falsch nutzte, daß die Beschmierer nicht einmal an diesem Ort zurückschreckten, ihrer Wut Ausdruck zu verleihen. Ich stand da und beobachtete schwarzgekleidete türkische Frauen, die auf dem umliegenden Trümmerhügel Kräuter sammelten. Sie pflückten sie aus einer Erde, die – gleichsam einem Mantel – alles mit Vergänglichkeit zugedeckt hatte.
Über zehn Jahre später werde ich wieder an dieser Stelle stehen. Die Türkenfrauen mit ihren Kräutern sind weg, aber das Museum ist noch immer nicht da, nur ein Interimsbau. Die Topographie des Terrors ist zur Topographie der Posse verkommen, die die Besucher mehr zu beschämen scheint als jene, die sie zu verantworten haben.
Ich werde wieder an den Nachbarn der Kindheit denken, an die Verbitterung, mit der er in zunehmendem Alter alles und jedes kommentierte. Auch die habe ich damals nicht verstanden. Es wird nicht nur der scharfe Wind sein, der mich fröstelnd zur Heimkehr treibt.