Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 12. April 2004, Heft 8

Premiere

von Mathias Käther

Beim erstenmal da tuts noch weh,
da glaubt man noch, daß man es nie verwinden kann,
doch mit der Zeit, so peu a peu,
gewöhnt man sich daran …
Alter Schlager

Lange habe ich nur von ihm gehört, jenem wundersamen Ort, von dem die Feuilletons und die Politiker singen wie einst Dante vom Inferno, jener dämonischen Pforte, an deren Schwelle man, um beim großen Italiener zu bleiben, jede Hoffnung fahren läßt, der Stätte des Grauens, von dem heute das Volk flüsternd erzählt wie einst von Drachenhöhlen in uralten Märchen: dem Arbeitsamt. Jetzt darf ich mir selbst ein Bild machen.
Die Nacht vor dem ersten Termin wälzte ich mich unruhig hin und her, Bilder von demoralisierenden und moralisierenden Bearbeitern, überdimensionalen Stempeln, endlosen Gängen und widerlich riechenden Kreaturen in den Wartesälen zogen durch meine Träume.
Dabei hatten die Kollegen beim Rundfunk mir gesagt, alles sei halb so schlimm, ich müsse ja nicht aufs »gewöhnliche« Amt, sondern auf das für Akademiker. Da ginge alles ein bißchen gesitteter zu. Von, nun sagen wir, stark akzentuiert riechendem Proletariat keine Spur. Höchstens arbeitslose BWL-Studenten mit nobler Amaretto-Fahne.
Ich also hin da. Nun liest sich das im Feuilleton immer so hübsch glatt und angenehm, dies lakonische »hin da«.
In der deutschen Hauptstadt, jenem Sündenbabel, dem Gott zur Strafe seiner Verfehlungen zwar nicht die Sprachen, aber immerhin doch die Verkehrsmittel verwirrt hat, gelangt man, oh argloser Provinzler, nicht einfach irgendwo »hin«. Ich also – so viel Zeit muß sein, lieber Leser – in den Schienenersatzverkehr Richtung Frankfurter Allee, der die Schienen der wochenlang stillgelegten U 5 ersetzte. Endstation Frankfurter wieder raus aus dem überfüllten Bus. Vielleicht ganz gut so, weil mir siedendheiß einfiel, daß ich gar nichts zu lesen mitgenommen hatte. Gute Gelegenheit, im Bahnhofsladen noch was Episches zu kaufen für eventuelle Wartesäle, anspruchslos, unterhaltend, aber nicht so fesselnd, daß man die aufgerufene Nummer überhört, mit Beiträgen, die man nach dem Aufruf ohne Bedauern wieder aus dem Hirn spülen kann. Also den Spiegel. Bestens.
Dann rein in die U-Bahn Richtung Lichtenberg, Magdalenenstraße aussteigen. Mein Lageplan verrät mir, daß das Akademiker-Arbeitsamt ganz in der Nähe der Normannenstraße liegt. Wie angenehm. Klar, in der Stasi-Ecke gibt’s jede Menge Verwaltungsräume. Leuchtet ein. Nach fünfhundert Metern Wanderung durch eine Gegend, die so öde ist, daß es sogar den Bombern des Zweiten Weltkriegs nicht in den Sinn kam, hier groß rumzutrödeln, gelangt man an einen Plattenbaukomplex in der Gotlindestraße, jedes Haus stolze acht Etagen hoch, alle voll von emsigen Mitarbeiten, deren bienenhafte Existenz nur dafür da ist, das Problem Arbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen. Ein beruhigendes Gefühl durchströmt den Betrachter bei diesem Anblick. So, wie wenn man die Polizei wegen Ruhestörung anruft und die GSG 9 Augenblicke später das Haus umstellt. Toll. Was kann einem jetzt noch passieren.
Nun ja, man kann zum Beispiel wieder hinauskomplimentiert werden, weil man den falschen Eingang gewählt hat. Dies hier, ja richtig, da steht es groß und deutlich, ist der »Mitarbeitereingang«. Logisch, ein so großes Unternehmen braucht auch separate Eingänge für die Angestellten. Hat aber auch irgendwas von Theater. Hier also versammeln sich nach Feierabend die Fans mit den Autogrammbüchern. Hm. Endlich finde ich den »korrekten« Zugang. Vorhang auf für Akt Eins.
Ich komme also … naja, schon gut, andere wollen hier auch noch schreiben. Ich fasse mich kurz und überspringe diverse Irrgänge und Dialoge. Die ungekürzte Fassung können Sie dann im posthumen Appendix-Band meiner Gesammelten Schriften nachlesen.
Man bedeutet mir, ich möge mein Anliegen im Raum fünfhundertirgendwas vortragen. Einfach so??? Neugierig durchwandere ich drei Flure, dann stehe ich im Raum NaSiewissenschon. Aha. Wie bei der Post. Man stellt sich an – bei einem Schalter, ganz wie im richtigen Leben. Und siehe da, es fehlen auch die Schilder nicht, die um Abstand und Diskretion bitten. Mit der Diskretion ist das aber so eine Sache: In dem – abgesehen von der Schalterbarriere – völlig unmöblierten, kahlen Raum hallt jedes Wort von den Wänden wider, man versteht bestens, wo den Vorgängern der Schuh drückt.
Wirklich und wahrhaftig muß man da also in einer langen Schlange warten, warten, warten. Daneben, am andern Schalter prangt oben drüber: »Leistungen«. Da steht niemand an. Vermutlich gibt’s da nicht so viel Bedarf. Wenn mal jemand kommt, wird er im Flüsterton von der jungen Schalterfrau irgendwohin geschickt. Meine Schalterfrau hört man vorn eine ewige Litanei murmeln, deren häufigste Phrasen sind: »… das hier mal bitte ausfüllen« und – »… im Warteraum Platz …«
Ich bin endlich dran und leiere meinen Vers her. »Ja dann füllen Sie das mal hier aus und nehmen Sie dann bitte im Warteraum Platz. Dies Formular schicken Sie Ihrem Arbeitgeber, das hier geben Sie hier wieder ab. Der nächste!«
Immerhin – sie sagt das mit einer gleichmütigen Freundlichkeit, die nicht nervt. Überhaupt: Man sieht nur junge Mitarbeiterinnen. Keine Männer. Angenehm, aber sonderbar. Ist das ein typisch weiblicher Berufswunsch: Arbeitslosen-Beamtin? So wie Kindergärtnerin? Oder werden die markig-muskulösen Männer an den sozialen Brennpunkten der Stadt gebraucht, dort, wo nervige Arbeiterfäuste auf das Schalterpult hauen und brüllen: »Ick wer dir ma wat sahren …«?
Apropos Pult: Bemerkenswert finde ich einen aufgeklebten Zettel am Schalter: »Bitte nicht auflehnen!« Zunächst verschränke ich gehorsamst meine Hände auf dem Rücken, um das sensible Staatseigentum nicht durch mein Körpergewicht zu beschädigen, bis mir in den Sinn kommt, dies könnte auch das Flehen der holden Weiblichkeit sein, hier um Gotteswillen keinen Rabatz zu machen.
Dann beginnt mein langes Rendezvous mit dem Spiegel im Wartesaal. Wartesäle – die muß ich Ihnen nicht schildern, was? Kennen Sie. Aber mitteilenswert ist doch, daß man hier nicht durch mickrige Lautsprecher Nummern quäkt, sondern daß die Damen höchstselbst durch die Tür treten und wie die Engel beim jüngsten Gericht die Delinquenten namentlich aufrufen. Mit Titeln! Das ist so wundervoll, daß es fast für das Gewarte am Schalter entschädigt. »Herr Doktor Pigulke, wenn Sie mir bitte folgen wollen!«
Übrigens: Magister werden nicht mitgesprochen, obwohl sie, dem Alter nach zu urteilen, hier wohl in der Mehrzahl sind. So weit geht die Höflichkeit denn doch nicht. Und es würde der so schon recht Hoffmannschen Situation auch allzu gespenstisch entsprechen. Hätte jemand gerufen: »Herr Magister Rösslein!«, ich glaube, ich hätte mich bekreuzigt.
Endlich, nach einer Stunde, werde ich abgeholt. Und in ein behaglich eingerichtetes Büro geführt, die Sorte mit den Fotos der lieben Freunde und Verwandten auf dem Schreibtisch. Meine Dame erzählt mir gemütlich bei einem Kaffee (nämlich ihrem), was ich alles noch ausfüllen muß. Und daß ich, beruhigenderweise, tatsächlich Anspruch habe auf zwölf Monate Arbeitslosengeld. Tandaradei! Die Welt ist doch gar nicht so übel. Und daß ich nächste Woche wiederkommen soll. Naja, schon weniger verlockend.
Aber wozu erzähl’ ich Ihnen das eigentlich alles so ausführlich? Entweder kennen Sie’s – oder Sie werden es erleben – früher oder später.