Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 12. April 2004, Heft 8

Ein Traum von einem Projekt

von Alfred Wilhelm

Sie gehören bald zu den meistgehaßten Leuten der Branche!« Herr Müller sah mich aus seinem mageren Gesicht an. »Glauben Sie nicht? Sie werden sehen …« Ich weiß nicht, was er mir in diesem Moment sagen wollte. Recht behalten hat er nicht. Noch nicht einmal ein Jahr später war er es, vor dem in der Finanzbranche, insbesondere im Bereich der betrieblichen Altersvorsorge, mit Rundschreiben gewarnt wurde.
Sein Finanzdienstleister, noch immer nicht gegründet, ließ diejenigen mittlerweile kalt, die man einst zu gewinnen hoffte. Dafür befaßte sich die Staatsanwaltschaft mit dem Unternehmensgefüge. Alles nicht schlimm, hieß es firmenintern. Schließlich könne jeder kommen und Anzeige erstatten – ob begründet oder nicht. Und die Behörden müßten sich dann damit befassen. Man verstehe sich gut mit den Ermittlern, sehr gut sogar. So gut, daß man sich eher Vorteil für das Projekt davon verspreche. Denn, naja, der Herr Müller, den wir noch bis vor kurzem geliebt hatten, na gut, der habe da etwas nicht so ganz richtig gemacht; aber nun sei er ja weg. Und da sei Aufklärung das beste. Wir begrüßen jede Erkenntnis der Behörden. Man kooperiere uneingeschränkt, ja geradezu begeistert.
Komisch nur: Selbst erstattete das Unternehmen keine Anzeige. Leitete keine Schritte ein, um an das Geld zu gelangen, dessen Spur sich bei Müller verlor und niemals bei der Firma angekommen war, die Müllers Projekt eigentlich aufbauen sollte.
Ein dreiviertel Jahr vorher versüßte mir Herr Müller seine Ankündigung, ich würde bald zu den meistgehaßten Leuten gehören, mit der Aufforderung, mich uneingeschränkt des Equipments seiner Firmen zu bedienen. »Telefonieren Sie, telefonieren Sie – Liquidität ist genug da! Sie haben eine herausgehobene Position, da braucht man Freiheiten, wenn man sie ausfüllen soll!« Das war die Direktive für das Dienst-Handy. Ich war gespannt, wie sie für den zu Beginn des nicht mehr fernen neuen Geschäftsjahres angekündigten Dienstwagen lauten würde.
Doch im Januar gab es an Stelle des Volvo erst einmal kein Gehalt. Schon im November und im Dezember hatte es kein Gehalt von meiner Firma gegeben, sondern von Herrn Müllers Privatkonto. Insofern hatte er recht: Liquidität war genug da. Nur nicht auf den Firmenkonten. Die zweieinhalb Millionen Euro, die Müller von einer angesehenen Pensionskasse zum Aufbau seines Projektes erhalten hatte, waren bei ihm, bei seiner Frau und einigen Geschäftsfreunden verblieben. Frau und Freunde hatten Provisionen für die Vermittlung eines Geschäftes erhalten, das der Herr Müller im Grunde mit sich selbst abgeschlossen hatte.
Eigentlich ganz einfach: Um den Teil der betrieblichen Altersvorsorge umzugestalten, den Herr Müller im Auge hatte, bedurfte es einer Projektidee und einer ziemlich komplexen Software. Beides lag bei der Firma X. Also war es am einfachsten, sich in Besitz der Firma X zu bringen. Deswegen veranlaßte der Herr Müller in seiner Eigenschaft als Vorsitzender Direktor der in Gründung befindlichen Kasse den Ankauf der Firma X. Die befand sich gerade in der Hand von Herrn Meier, der die Software entwickelt hatte. Der wiederum hatte sie kurz zuvor vom Erfinder der Projektidee übernommen und schuldete dem noch die Kaufsumme. Sie belief sich auf knapp zweieinhalb Millionen Euro. Und Herr Meier schuldete sie dem Herrn Müller. So einfach ist das.
Der Herr Müller fand das ganz in Ordnung. Er hatte einige Jahre seines Lebens in dieses Projekt gesteckt – auch schlechte, karge Jahre. Er war der festen Überzeugung, daß er der Welt viel Gutes täte, wenn er seine Kasse gründet. Und daß er ein ziemliches Cleverle sei. Und daß es ihm zustehe, gleich bei der ersten Gelegenheit alles das für sich aus der Geschichte herauszuholen, was zu kriegen wäre. Das waren eben so knapp zweieinhalb Millionen.
So kam es auch, daß der Herr Meier von dem Deal gar nichts hatte – keine Provision, nicht einmal ein regelmäßiges Geschäftsführergehalt.
Seine große Zeit sollte nach Gründung der Kasse kommen – wenn für Zehntausende von Menschen die Betriebsrenten über die Firma X verwaltet würden. Dazu kam es aber nicht. Jedenfalls nicht bis heute. Denn die große, traditionsreiche Pensionskasse, die dem Herrn Müller die zweieinhalb Millionen vorgeschossen und weitere anderthalb Millionen zugesichert hatte, wunderte sich über den Verbleib ihres Geldes. Vor allem deswegen, weil der Herr Müller bis Jahresende die Gründung seiner Kasse zugesichert hatte – und damit die eigentlich notwendige Voraussetzung für den Deal mit den zweieinhalb Millionen. Keine Kasse – kein Partner – kein legal ausgereichtes Geld. Also soll der Herr Müller das Geld zurückzahlen. Oder den Nachweis der Gründung erbringen.
Natürlich will er das Geld nicht zurückgeben. Er will es ja für sich haben – den, wie er meint, wohlverdienten Lohn für lange Vorarbeit. Für den aufgegebenen guten Job in der Unternehmensberatung. Für das Risiko, selbst Unternehmer werden zu wollen. Für seine Genialität. Da wird denn auch schon mal ein wenig geflunkert und bei den möglichen ersten Kunden der Eindruck erweckt, man habe schon tausende Versicherte. Vorsichtig, gewiß: Als der Eindruck entstanden ist, quasi so nebenbei, korrigiert man ihn nicht. Man kann ja nicht auf alles eingehen, was so am Rande gesagt wird. Dabei ist dieser Eindruck für die Anzuwerbenden durchaus wichtig. Und das wiederum ist für den Herrn Müller wichtig, denn er muß seinen Geldgebern vorführen, daß seine Kasse fast schon gegründet ist und fast schon Kunden hat.
Aber im Kern geht nichts, ohne daß die Kasse wirklich gegründet ist. Ein Eintrag im Handelsregister reicht hier nicht. Das Projekt, an dem wir arbeiten, will dem Öffentlichen Dienst Gutes tun. Und deswegen soll es selbst eine öffentlich-rechtliche Einrichtung sein. Früher, noch vor zwei, drei Jahren, war das unumgänglich. Inzwischen ist alles im Fluß – auch in diesem Bereich. Und es könnte sein, unser Projekt funktioniert nun auch auf privatwirtschaftlicher Basis. Doch dann fiele ein großer Vorteil weg – die »Gewährsträgerhaftung«. Und die wiederum – aber das ergibt sich nur so nebenbei im Gespräch mit einem Geschäftsfreund von Herrn Müller – ist doch ein tolles Argument für Kunden aus der freien Wirtschaft, die ihre Betriebsrenten über unser Projekt abwickeln wollen sollen. Klar – wo gibt es das sonst schon, daß nix und niemand Pleite gehen kann? Freilich: Wenn dann doch mal etwas schiefgehen sollte, müßte letztlich der Steuerzahler dafür eintreten. Dann wäre eine Kommune noch mehr überschuldet. Oder ein Zweckverband.
Mit der modernen Technik geht vieles. Wer kann schon nachprüfen, ob die Kopie wirklich vom originalen Original gezogen wurde? Und das Mathematische – das klingt abstrakt richtig. Wer kann das schon nachrechnen. Bleibt eine simple Frage: Wie ist das nun mit dem Herrn Müller und seiner Vorstellung davon, wann und in welcher Höhe er sich seinen Anteil vergütet? Mit dem Streit um die zweieinhalb Millionen? Mit den nicht gezahlten Rechnungen und Gehältern? Mit dem Geflunker um die vielen Kunden, die man angeblich hat und die davon gar nichts wissen?
Eigentlich war es ein Segen, daß der Herr Müller so schnell und so konsequent zu seinen Gunsten gehandelt hatte. Es ist ja fast nichts geschehen. Gut, die zweieinhalb Millionen fehlen der Pensionskasse. Aber der Herr Müller ist ja noch im Land; kriegt man ihn nicht zu fassen, werden die Rentenbeiträge um einige Cent angehoben – das merkt kaum jemand. Für die ausgefallenen Gehälter wird Insolvenzgeld gezahlt. Und ich bin wieder an meinem alten Platz. Ist überhaupt etwas passiert?