Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 29. März 2004, Heft 7

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von Wolfgang Sabath

Ich fürchte, daß Nachgeborene nach der Lektüre dieses Buches – so sie sich denn darauf einließen, einer Geschichte aus alter Zeit Respekt und Sentiment zu widmen – einigermaßen hilflos und auch voll Unverstand auf das Buch reagieren könnten. Nicht, daß den heute das Reportage-Bild der deutschen Presse bestimmenden Autorinnen und Autoren Repression, Einmischung, Druck, »Bestrafung« und dergleichen fremd wären. Aber erstens erfolgen sie (in der Regel!) subtiler, sozusagen »kulturvoller« (wie gesagt: in der Regel!). Und zweitens funktioniert Einflußnahme heutzutage sehr oft auch über Kumpanei. Wie häufig läßt sich zum Beispiel bei Pressekonferenzen beobachten, daß die Pressesprecher und Presseschreiber einander duzen, weil: Jeder ist von jedem in irgendeiner Weise abhängig …
Das neue Buch von Jean Villain Bitte nicht stürzen! ist die Geschichte eines gescheiterten Projektes: Der Reporter erzählt von einem Nachrichtenmagazin, das 1965/66 in der DDR entstehen und Profil heißen sollte. Die konzeptionelle und praktische Verwirklichung war vom Großen Haus Hans Otten, Chefredakteur der NBI, aufgetragen worden war. Der Schweizer Jean Villain, in der DDR als Korrespondent des Vorwärts, Organ der Schweizer Partei der Arbeit lebend, erhielt von Otten den Auftrag, einen Reporter-Kursus für talentierte junge Leute einzurichten, die dann später für Profil tätig werden sollten. Zu den jungen Talenten gehörten unter anderen Klaus Schlesinger und Landolf Scherzer. Die Texte, die in der Regie Villains von den Kursanten verfaßt wurden, erschienen in der NBI.
Indes: Villain (und Otten) hatten bald zu konstatieren, daß »die Neuen« nicht allseits gelitten waren. Auch das geplante Magazin war es nicht. Wie oft vermischten sich bei derlei Gelegenheiten persönliche Animositäten wie Neid und Eifersucht mit politischen Unverträglichkeiten zu einem stinkenden und ungenießbaren Brei. Jean Villain schreibt von »spürbar wachsendem Widerstand gegen unsere Texte« in der NBI-Redaktion. Nur wer Redaktionen nicht von innen kennt, wird sich darüber wundern: Sie, die unerwählten Redakteure, haben Woche um Woche Kärrnerarbeit zu leisten, hasten Tag für Tag Terminen hinterher, haben vielen Widrigkeiten zum Trotz Seiten zu produzieren und außerdem vielleicht noch einen immer nörgelnden Abteilungsleiter im Nacken.
Wochenlang Zeit für Recherchen? Achduliebezeit …! Ja, die Neuen – hocken irgendwo in Pankow zusammen, trinken Tee, qualmen, reden, diskutieren, stundenlang, wochenlang. Konzipieren, verwerfen, konzipieren erneut und recherchieren so oft und so viel, sie es und ihr Lehrer für richtig halten – wenn das kein Neidpotential gewesen sein soll, ich weiß ja nicht. Davon, daß unterschwellig auch Neid auf »den Schweizer« eine Rolle gespielt haben könnte, der seinen Paß behalten hatte und »hin und her konnte« – sozusagen ein Dauerreisekader – gar nicht zu reden.
Villain beschreibt sehr ausführlich seinen Reporterkursus, und insbesondere die Passagen, in denen es um seinen »Lehrling« Klaus Schlesinger geht, las ich mit Anteilnahme – und mit Weh, ob des frühen Todes dieses so überaus anständigen Menschen und Autors. So eine Reporterschule wirft immer wieder die Frage nach ihren Sinn auf, heute wie damals. Landolf Scherzer ließ Villain erst jetzt wissen: »Das erste Mal, als ich mich mit der Frage einer Konzeption beschäftigte, geschah das auf Anweisung meines Deutschlehrers beim Aufsatzschreiben. Allerdings verfasste ich die so genannte Gliederung schon damals beständig zum Schluss, nachdem der Aufsatz fertig war, und hängte sie dann zur Beruhigung des Lehrers noch hinten an.« Was Scherzer allerdings nicht daran hinderte, später, als er von der Leipziger Journalistenfakultät in Villains Edelfedertruppe delegiert worden war, dort zu den Fleißigsten zu gehören …
Irgendwann gab es dann 1800 Exemplare einer Probenummer von Profil, die gingen ins Große Haus – und das war es dann. Vielleicht hätte ein Nachdruck der Profil-Texte den Rahmen eines Taschenbuches gesprengt, dennoch hätte wenigstens eine komplette Liste der Autoren und Artikel für den Leser das Profil des Profils geschärft. Es ist auch höchst bedauerlich, daß sich Jean Villain fast ausschließlich auf sein Archiv stützt und nicht auch das Archiv des ZK der SED zum Thema Profil durchgesehen hat. Vielleicht wäre dann nicht im Dunkeln geblieben, wer eigentlich wann und wo die Idee gehabt hatte, ein Nachrichtenmagazin in den Farben der DDR zu gründen. Das hätte ich schon ganz gerne gewußt. Überhaupt: Bei der Nennung von Roß und Reiter hält sich Villain vornehm zurück und operiert vorzugsweise mit Initialen. Das finde ich schade, weil das Buch nicht nur pressegeschichtlich von Belang, sondern auch in anderer Beziehung eine probate Kost ist. Und zwar gegen unser ach so bequemes Vergessen.
Wenn ich nun wieder einmal daran erinnert werde, wie die von Villain mit Anonymität belohnten ehemaligen Funktionäre dazumal mit ihren Genossen (oder Nichtgenossen) Journalisten umzugehen pflegten, was für Töne sich da erlaubt wurden, wieviel Impertinenz da praktiziert und wie oft Schicksal gespielt wurde – es treibt einem noch heute die Zornesröte ins Gesicht. Und die Schamröte auch. Über eigenes Versagen.
Alles vorbei, vergessen, verziehen? Geschichte? Aus Kujoneuren von einst, aus Anleitern und Durchstellern (»Wir, das ZK, sind der Meinung«) sind inzwischen harmlos freundliche Onkels und Teilnehmer von Leserreisen geworden. Es gibt Gelegenheiten, sie zu treffen, braungebrannt, ihre Rentenhöhen beklagend. Und wenn sie dich sehen, mußt du aufpassen, daß du in ihrer brüderlichen Umarmung nicht zerdrückt wirst. Wiegehtsdirdenn? Als sei zwischen ihnen und dir nie etwas anders gewesen. Ich beneide sie um ihre Vergeßlichkeit.

Jean Villain: Bitte nicht stürzen! MV Taschenbuch. BS Verlag Rostock 2004, 8,70 Euro