von Wladimir Wolynski, Moskau
Russische Zeitungen sind besser als ihr Ruf. Natürlich gibt es auch hier Blätter für Hirnamputierte vom Typ der deutschen BILD; aber es existieren erfreulicherweise auch Zeitungen mit Niveau. Gegenwärtig diskutieren einige dieser Zeitungen die Wechselbeziehungen zwischen dem Krieg in Afghanistan und dem in Tschetschenien. Dabei haben sie die Langzeitwirkungen des afghanischen Feldzugs für den gesamten Mittleren Osten im Auge.
Boris Gromow, derzeit Gouverneur des Moskauer Gebiets, seinerzeit Befehlshaber der 40. Armee, die im Februar 1989 aus Afghanistan zurückgezogen wurde, sieht Wurzeln heutiger Konflikte ( einschließlich der Attentate in Moskaus U-Bahn oder im Theater Nord-Ost und des Krieges in und um Tschetschenien) »in der in höchstem Maße verantwortungslosen Entscheidung, Truppen nach Afghanistan zu entsenden« und in der nachfolgenden Absicht, »den tschetschenischen Knoten mit Gewalt zu durchschlagen«.
Der erfahrene General ist der Überzeugung, »daß wir, als wir Truppen in Afghanistan einmarschieren ließen, einen Ameisenhaufen nicht nur in diesem Land, sondern in der gesamten Südregion aufgestochert haben«. Er sei noch während des Afghanistan-Feldzugs zur Überzeugung gelangt, daß es zwingend geboten sei, sich so bald wie möglich militärisch aus Afghanistan zurückzuziehen. Aber die politische Führung der UdSSR, und damals vor allem Eduard Schewardnadse, hätten auf Teufel komm raus den damaligen Präsidenten Afghanistans, Muhammed Nadshibullah, im Sattel halten wollen. Zu eigenem Nutz und Frommen. Der Konflikt hätte – so Gromow – spätestens im November 1988 gelöst werden können. »Wir haben und hätten auch weiterhin Nadshibullah mit Waffen, Munition und Beratern unterstützt« – aber sein Land hätte er schon selbst in Ruhe halten müssen. »Nadshib« habe jedoch ausschließlich auf sowjetische Truppen und auf den »Kampf bis zum letzten sowjetischen Soldaten« gesetzt.
Damals stand der spätere Verteidigungsminister Rußlands, Pawel Gratschew, als Kommandeur der 106. Luftlandedivision unter Gromows Kommando. Als Gratschew 1988 an die Generalstabsakademie abkommandiert wurde, habe er ihn verabschiedet. »Pawluschas« Führungsniveau sei auch späterhin niemals höher als das eines Divisionskommandeurs gewesen. »Ich bin der Auffassung, daß Gratschew der Verantwortliche dafür ist, daß in der Neujahrsnacht 1995 hunderte unserer Jungens in Grosny ums Leben gekommen sind.« Jedoch bis jetzt wisse Rußland noch nicht einmal, wer den Befehl zum Einmarsch in Tschetschenien gegeben habe. »Und«, fügt Gromow hinzu, »wäre es heute nicht vernünftiger, sich mit den Dudajews, mit den Maschadows, mit den Basajews zu verständigen. Wäre es nicht überhaupt besser gewesen, die Truppen in den Kasernen zu belassen«, anstatt sie in den Kaukasus zu schicken.
Besonders schwer sei es sowohl in Afghanistan als auch in Tschetschenien gewesen, die Opfer zu zählen. »In zehn Jahren haben wir in Afghanistan 10803 Mann verloren. Das scheint, im Vergleich zu Tschetschenien, nicht gar so viel zu sein, aber für mich ist das eine bis heute nicht verheilte Wunde.«
»Jetzt suchen alle die Wurzeln des tschetschenischen Terrorismus, versuchen alle, sich zu erklären, weshalb das Land sich in eine Art Übungsplatz für Todeskandidaten verwandelt hat. Ich denke, die Wurzeln gehen nicht nur bis ins Jahr 1994 zurück, sondern reichen viel weiter in die Vergangenheit. Der Einmarsch unserer Truppen in Afghanistan, die Ereignisse von 1994 und das, was heute im Lande los ist, all dies ist miteinander verbunden … In Tschetschenien wolle man, so hieß es, die Bevölkerung vor Dudajew schützen. In Wirklichkeit leiden bis auf den heutigen Tag völlig unschuldige Menschen. Und die Banditen, die Macht in den Händen hatten, Geld in der Tasche und Waffen, haben nach wie vor ihre Macht, ihr Geld, ihre Waffen.«
Aufschlußreich auch die Meinung eines weiteren hohen Militärs – im Unterschied zu den durch und durch russischen Wurzeln Gromows jemand mit muslimischen Wurzeln: Der Generalleutnant Ruslan Auschew, Vorsitzender eines Komitees für Angelegenheiten von Soldaten-Internationalisten, das heißt Militärs der ehemaligen Sowjetunion, die zu offenen oder verdeckten Auslandseinsätzen abkommandiert waren, sieht die wichtigste Lehre aus dem Afghanistankrieg (der außer den Toten auch Vermißte, Gefangene und 54 000 Verwundete zur Folge hatte) darin: »Man darf einem anderen Land nicht sein eigenes Modell der sozial-ökonomischen und anderer Ordnungen, seine Art und Weise der Machtausübung aufzwingen wollen.« Die beiden kriegserfahrenen Generale denken dabei nicht nur an den Irak.
Eine Ergänzung: Laut Informationen des Generalstabs der Streitkräfte Rußlands betrugen die Verluste: im afghanischen Feldzug 14751 Mann (noch mehr, als Gromow angibt), im Koreakrieg (1950-1953) 299 Mann (vor allem Jagdflieger); 155 Soldaten fielen in den Jahren des »Kalten Kriegs« bei Einsätzen in Afrika und Asien (zum Beispiel in Vietnam, Ägypten, Angola und Moçambique), 750 bei der Niederschlagung des Aufstands 1956 in Ungarn, 96 beim Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968; sechzig im Verlauf der chinesisch-sowjetischen Auseinandersetzungen 1969 am Ussuri, 5835 während des ersten Kriegs in und um Tschetschenien und bisher über fünftausend während des noch andauernden zweiten Tschetschenienfeldzugs.
Mit diesem Text stellt sich unser neuer Moskauer Mitarbeiter vor.
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