Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 15. März 2004, Heft 6

Ukrainischer Büchermarkt

von M. R. Richter, Kiew

Viele Besucher der Sowjetunion berichteten einst erstaunt über die Lesefreudigkeit der Bevölkerung, über das »Leseland« von Brest bis Wladiwostok. In der Metro, an den Haltestellen, in den Warteschlangen vor der Geschäften, überall traf man auf Lesende. Bücher waren billig. Viele Touristen aus beiden deutschen Staaten deckte sich in den Druschba-Läden für ausländische Literatur mit preisgünstigen herrlichen Bildbänden und Ausgaben auch deutscher Verlage ein.
Solch ein Druschba-Laden befand sich auch in Kiew auf der Prachtstraße Krestschatik. Sucht man ihn heute auf, erkennt man ihn kaum wieder. In einer schummrige Ecke werden zwar wirklich noch fremdsprachige Bücher angeboten, alte Ausgaben, meist englischsprachig, verstaubt. Ansonsten bestimmt ein Fotoshop, ein Souvenirshop und ein Stand zum Einpacken von Geschenken und ein Ansichtskartenstand das Bild. Das Geschäft mit Büchern spielt sich heute auf der Straße ab. Klassikerausgaben findet man nur noch in Antiquariaten. An fast allen belebten Stellen haben fliegende Händler ihre Klapptische aufgestellt.
Was bieten sie an? An erster Stelle – Wörterbücher, zumeist Englisch – Russisch und Russisch – Ukrainisch, seltener andere Sprachen. Dann kommen die unterschiedlichen Sammlungen und Kommentare zu neuen gesetzlichen Bestimmungen und Verordnungen. Diese natürlich auf Ukrainisch. Hat der Händler seinen Stand in der Nähe von Hochschulen aufgeschlagen, bietet er eine Vielzahl unterschiedlicher, der Lokalität entsprechender Lehrbücher an, auch diese, falls sie Staatsrecht, Politikrecht, Finanzen oder Management betreffen, in Ukrainisch. Darüber hinaus bieten die Händler ein breites Spektrum von Taschenbüchern feil, Unterhaltungsliteratur, zumeist Thriller aus dem großen Nachbarland, bunt und reißerisch aufgemacht. Massenliteratur kommt zumeist russisch daher, genauso wie die bunten Periodika aller Art.
Damit ist der Konflikt auf dem ukrainischen Büchermarkt dargestellt: Die Massenware erscheint zumeist auf Russisch und wird aus Rußland direkt importiert, legal und auch illegal. Deshalb fordern ukrainische Schriftsteller eine stärkere staatliche Förderung ukrainischsprachiger Literatur. Sie verlangen eine Schutzzoll-Politik gegen russischsprachige Ausgaben, ja, einige gar das generelle Verbot russischsprachiger Bücher und Zeitschriften. Ohne eigene Sprache keine eigenständige Nation!, lautet ihr Schlachtruf. Dabei ist die Ukrainifizierung dank staatlicher Subventionen und Steuererleichterungen in den vergangenen Jahren gut vorangekommen. In der Mehrzahl der allgemeinbildenden Schulen wird auf Ukrainisch gelehrt, die russische Sprache wird häufig hinter die englische auf den zweiten Fremdsprachenplatz verdrängt. Alle Staatsangestellten haben sich des Ukrainischen zu bedienen. In den Hochschulen ist das Ukrainische auf dem Vormarsch. Trotzdem wird in der Mehrzahl der Familien im täglichen Verkehr Russisch gesprochen, natürlich mit starkem Gefälle vom Osten nach dem Westen der Ukraine. Daraus erklärt sich auch die Teilung des Büchermarktes: Schulbücher, Kinderbücher, teure Bildbände, Lehrbücher nichttechnischer Fachrichtungen – Ukrainisch, technische Literatur und Unterhaltungsliteratur – Russisch. Selbstverständlich können russischsprachige Bücher auf Grund der höheren Auflage – insbesondere auf dem Gebiet der Massenware und im Zeitungswesen – wesentlich preisgünstiger hergestellt werden. Ukrainischsprachige Autoren müssen demzufolge mit geringeren Einkünften vorliebnehmen. Auch das ein Grund zur Beschwerde, Ukrainer würden benachteiligt! Und wieder der Ruf nach dem Staat. Am lautesten beschweren sich ukrainische Lyriker …
Ob die ukrainischsprachigen Ausgaben die russischsprachigen überhaupt verdrängen können, darf stark bezweifelt werden. Wer von ukrainischen Autoren für eine breite Leserschaft schreiben will, sei es wissenschaftliche Literatur oder sei es Trivialliteratur, der muß sich an das zahlenmäßig überwiegende russischsprachige Publikum in allen GUS-Staaten und darüber hinaus wenden – und er tut es, allen nationalistischen Aufrufen zum Trotz.