von Gisela Reller
Richard Lourie ist Amerikaner, er lebt in New York. Es gibt von ihm schon Stalin, die (fiktiven) geheimen Aufzeichnungen des Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili. Nun liegt Sacharow vor, eine Biographie des »Vaters der sowjetischen Wasserstoffbombe«. Richard Lourie hatte Sacharows Memoiren ins amerikanische Englisch übersetzt und war wohl dadurch so neugierig auf ihn geworden, daß er selbst eine Biographie über einen der bedeutendsten Physiker des 20. Jahrhunderts schreiben wollte. Wie schon bei seinem Stalin-Roman erstaunt die Materialfülle, hier besonders Louries Vertrautsein mit der Physik. Aus einer Danksagung erfahren wir, daß ihm sein Bruder Robert bei physikalischen Fragen unter die Arme gegriffen hat und das Manuskript auf wissenschaftliche Exaktheit hin durchsah.
Richard Lourie hatte Andrej Sacharow (1921-1989) noch persönlich kennengelernt und führt heute noch »lange, rauchgeschwängerte Gespräche« mit dessen Witwe Jelena Bonner. Gestützt auf viele Quellen – er führte zahlreiche Gespräche mit Zeitgenossen Sacharows und sah auch die bislang geheimen KGB-Materialien sowie Sacharows Korrespondenz ein – erzählt Lourie ein Leben, das aufs engste mit fast einem Jahrhundert Sowjetgeschichte verbunden ist.
Der hoch talentierte Physiker – groß und hager, schüchtern, doch bei alledem auch sehr selbstbewußt, ein Mann, der meist viel zu kurze Hosen und manchmal auch zwei verschiedene Schuhe trug – wurde 1948 ins sowjetische Atomwaffenprogramm eingebunden und fühlte sich damals als »Soldat des naturwissenschaftlich-technischen Krieges«. 400000 Strafgefangene errichteten jene Objekte, in denen Sacharow beim Bau der Bombe half. Nach der erfolgreichen Explosion der Wasserstoffbombe am 12. August 1953 wurde Sacharow vom Kreml hofiert: Er wurde jüngstes Vollmitglied der Akademie, Held der Sozialistischen Arbeit, er erhielt den Stalinpreis und ein Direkttelefon für Kontakte zum engsten Zirkel der Macht.
Die ersten Toten bei einem Versuch 1955 und die Erkenntnis, daß jeder Test langfristig mehr als 10000 Opfer fordern werde, zwangen das Physikgenie zum Umdenken. Lourie datiert den Bruch in Sacharows Biographie auf jenes denkwürdige Treffen mit Nikita Chruschtschow 1961, bei dem der Bombenbauer einen Teststop forderte, der Parteichef aber seinen Untergebenen öffentlich erniedrigte.
Mit seiner Wasserstoffbombe erhob Sacharow die Sowjetunion zur Supermacht, mit seinem bestaunenswerten Mut und seiner moralischen Integrität wurde er später in seiner Heimat zu einem rührigen Verfechter bürgerlicher Freiheiten und Menschenrechte. Sacharow hat viel riskiert, verlor seine Privilegien, seine Arbeit, sein Aufenthaltsrecht in Moskau – es war sieben Jahre lang als Staatsfeind Nummer 1 nach Gorki verbannt, das heute wieder Nishnij Nowgorod heißt. Mit seiner ersten Frau Klawdija Wichirewa, die 1969 starb, war er ein Vierteljahrhundert verheiratet, hatte drei Kinder, zwei Töchter und einen Sohn, der beim Tod seiner Mutter erst zehn Jahre alt war.
Sacharow, der sich um zahlreiche politische Häftlinge kümmerte, die Rechte von Krimtataren, Mescheten, Armeniern und Georgiern verfocht, vernachlässigte seine Kinder – die es ihm auch nicht gerade leicht machten. Sie verübelten ihm die Heirat mit Jelena Bonner – der Tochter einer sibirischen Jüdin und eines armenischen Vaters. In seinen Memoiren spricht er wehmütig dieses schmerzliche Kapitel seines Lebens an, er schreibt über seine Kinder und Enkel: »Ich habe viel versäumt – aus Trägheit, durch rein physische Beschränkungen, durch den Widerstand meiner Töchter und meines Sohnes, den ich nicht überwinden konnte. Aber ich höre nicht auf, darüber nachzudenken.«
Sacharows Sohn Dmitrij (Dima) hat weder seine Ausbildung als Physiker noch als Mediziner beendet, hat selbst einen Sohn, ist geschieden, sucht oft Trost im Alkohol. Lourie: »Dima streift immer noch durch Moskau, verwegen, grandios, schnell beleidigt. Er kennt alle und jeden, traut niemandem und gibt sich krampfhaft Mühe, nicht dem Beispiel des Vaters nachzueifern …«
Richtig wohl, schreibt Sacharow, fühle er sich nur mit den Kindern – Tochter, Schwiegersohn und Sohn – von Jelena Bonner. Tatjana, mit Efrem Jankelewitsch verheiratet, half Lourie dann auch als Leiterin des Andrej-Sacharow-Archivs an der Brandeis University tatkräftig bei seiner Biographie; auch mit Efrem korrespondierte Lourie viel und oft über »die Stimmung, das Wetter, den Tenor jener fernen Tage der Dissidentenzeit«.
Für seinen Stiefsohn Alexander führte Sacharow sogar gemeinsam mit Jelena Bonner einen seiner Hungerstreiks durch, um für dessen »große Liebe«, die schöne Mongolin Lisa, ebenfalls die Ausreise nach Amerika zu erzwingen. Auch dies ging natürlich durch die Presse, und man versteht durchaus, wenn sich die Kinder Sacharows zurückgesetzt fühlten. Für Sacharow war Jelena Bonner der einzige Mensch, »zu dem ich eine immer zuverlässige innere Beziehung spüre (…) Wir sind zusammen. Das gibt dem Leben einen Sinn.«
Die erste umfassende Biographie über den Atomphysiker und Friedensnobelpreisträger von 1975 macht den Leser gleichermaßen mit dem Wissenschaftler vertraut, der die Welt durch die Erfindung thermonuklearer Waffen und durch physikalische Grundlagenforschung veränderte, mit dem Menschenrechtler, der vielen Häftlingen zur Freiheit verhalf, und mit dem Menschen Sacharow, seinen Schwächen und Stärken. Am Ende seines Lebens wurde Sacharow in das sowjetische Parlament gewählt, wo er sich darum bemühte, die sowjetische Verfassung zu reformieren. Sein Tod im Dezember 1989 – da war er 68 Jahre alt – verwehrte es ihm, daran mitzuwirken, die atomare Supermacht in eine demokratische Gesellschaft zu führen. Richard Lourie konzentriert sich bei seiner Biographie auf die Frage, wie ein Naturwissenschaftler zum Politiker, wie ein Bombenbauer zum streitbaren Humanisten wird. Der Autor wird all den wissenschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen und menschlichen Aspekten mit seiner umfassenden und spannend erzählten Biographie Sacharow gerecht. »In Gesprächen mit dem Historiker Martin Kenner«, schreibt Lourie, »wurde ich daran erinnert, beim Erzählen einer Lebensgeschichte das rechte Maß zwischen dem großen Rahmen und den kleinen Dingen zu halten.« Dieses rechte Maß ist es denn auch, was an Richard Louries Biographie am meisten beeindruckt.
Noch eine Anmerkung: Auf Seite 451 schreibt er, daß Breshnews Gesundheitszustand so schlecht gewesen sei, »daß Gerüchte kursieren, der berühmte Wunderheiler Dshuna behandele ihn«. »Der Wunderheiler« Dshuna, der Breshnew tatsächlich behandelte, war eine Frau! Ich interviewte die berühmte Assyrerin 1986 in ihrer Moskauer Wohnung auf dem Arbat.
Richard Lourie: Sacharow – Eine Biographie. Aus dem Englischen von Norbert Juraschick, Luchterhand München 2003, 30 Euro
Weitere Rezensionen zur russischen und zur gegenwärtigen Literatur einstiger Sowjetrepubliken sind auf der Homepage der Autorin abrufbar: www.reller-rezensionen.de
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