Des Blättchens 5. Jahrgang (V), Berlin, 9. Dezember 2002, Heft 25

Das Narrenschiff

von Wolfgang Sabath

Wahrlich, liebenswert bis zum Gehtnichtmehr dieses  Narrenschiff Deutschland. Man traut sich kaum, die Morgenzeitung aufzuschlagen – wer weiß denn, welche Überraschung heute wieder dekretiert, diskutiert oder angekündigt wird: Steuern, Mieten, Tarife, Preise, Renten, Krankenkassen, Billiggebisse – und keiner ist es gewesen, keiner bekennt sich zu irgendeiner Art von Schuld oder dazu, daß von ihm oder ihr irgendwann falsche Entscheidungen getroffen worden sein könnten. Solche, die uns allen heute auf die Füße fallen. Allen? Natürlich nicht. Doch interessant ist wieder einmal, daß die Eliten – womöglich haben Eliten das so an sich – kein Bild ihrer selbst haben. Da kam sich zum Beispiel Berlins Sparkommissar Sarazzin, SPD, nicht albern vor, zu erklären, er käme durchaus mit zehn Prozent weniger Einkommen zurecht. Aha. Auch Rolf Breuer, Chef des Aufsichtsrats der Deutschen Bank, hält seine Bezahlung (jährlich 16,4 Millionen Euro) für angemessen und beklagt, daß die Bezüge von Topmanagern einen »übergroßen Raum« in der öffentlichen Diskussion einnähmen. Breuer bemüht wie schon andere vor ihm den sogenannten internationalen Vergleich. Für die Deutsche Bank seien die Vergütungen bei Credit Suisse, UBS, Merril Lynch und ähnlichen Syndikaten Maßstab.
Ach, ja – wir haben ja auch noch eine Regierung. Und eine Opposition auch. Letzterer geht es – den Umständen entsprechend – gut. Sie würde es natürlich nie zugeben, aber ich vermute, sie ist sehr froh darüber, die Wahl nicht gewonnen zu haben – jetzt müssen die Sozen sehen, wie sie die Karre aus dem Dreck ziehen. Und Merkel, Merz und Meyer können freiweg die Gusche aufreißen. Obwohl: Auch das ist nicht ganz ungefährlich. Denn wenn es die SPD in dreieinhalb Jahren nicht geschafft haben wird, das Schiff in ruhigere Gewässer gelotst zu haben und die Wähler dann dementsprechend votieren, müßten CDU/CSU auf die Brücke – und hätten den ganzen Klumpatsch an der Backe. Aber vielleicht haben wir bis dahin – was Gott verhüte, aber so sehr kann man sich auf den ja auch nicht verlassen – ein Kriegskabinett der nationalen Einheit.
Zumal Regierungs- und Oppositionsparteien mehr Gemeinsamkeiten haben, als sie dem Wahlvolk gegenüber zuzugeben bereit sind. In den letzten Monaten spielten sie einträchtig miteinander ein Gesellschaftsspiel, das zwar noch keinen Namen hat, aber durchaus heißen könnte: Wer hat wann nicht gelogen? Sieger ist, wem es gelingt, einen Politiker auszuwürfeln, der die Wahrheit sagte. Ein höchst anspruchsvolles Glücksspiel also. » Überall Lügenbarone « überschrieb eine Berliner Tageszeitung einen Artikel zu diesem Thema und versah ihn mit der Unterzeile: »Die Parteien übertreffen sich mit Vorwürfen – Deutschland ist auf dem Weg zu einer Münchhausengesellschaft, glaubt Siegmar Gabriel«.
So und jetzt, liebes Volk, diskutieren wir mal über Parteienverdrossenheit und die letzten Wahlbeteiligungen. Allerdings nicht zu lange und nicht zu gründlich, denn sonst käme womöglich noch jemand auf die Idee, die Legitimation der Regierung (oder der Opposition), für die Bevölkerung zu sprechen, in Frage zu stellen. In ihrem Text Das Narrenschiff nahmen Jens J. Lauterbach und Reinhard Mey die derzeitigen deutschen Turbulenzen folgendermaßen vorweg:

Das Quecksilber fällt, die Zeichen stehen auf Sturm
Nur blödes Kichern und Keifen vom Kommandoturm
Und ein dumpfes Mahlen grollt aus der Maschine.
Und Rollen und Stampfen und schwere See,
die Bordkapelle spielt »Humbatäterä«,
Und ein irres Lachen dringt aus der Latrine.

Ausgesprochen irre geht es in den Vergnügungssalons unter Deck des Narrenschiffes zu. Dort amüsieren sich Spaßmacher jeglicher Couleur, solche, deren Freunde hilflos auf der Kommandobrücke herumhampeln, und jene, die derzeit Regierungspause haben und sich zufrieden zurücklehnen können beziehungsweise alle zwei Tage in eine Redeschlacht ziehen und den Aufstand proben. Zu den Regierungsfreunden gehört zum Beispiel der die Regierung beratende Wirtschaftsweise Rürup. Der schlug vor – es wird insbesondere die Herren Hundt & Henkel gefreut haben –, die Lebensarbeitszeit auf 67 Jahre zu verlängern und damit quasi hundert Jahre deutsche Gewerkschaftsbewegung zu eliminieren; die SPD ist dagegen, doch es fragt sich, wie lange noch. Der Rürup-Vorschlag ist aus vielerlei Gründen erschreckend – zum Beispiel könnte seine Realisierung auch bedeuten, im Fernsehen noch fast zwanzig Jahre lang mehrmals wöchentlich die Grüne Echauffeuse Claudia Roth …
Einen besonders aparter Clown trat für die CDU an. Der nämlich schlug vor, die Losung der DDR-Dissis »Wir sind das Volk!« zu reanimieren und auf das sogenannte Hier und Heute anzuwenden. Die Passagiere des Narrenschiffs – und zwar in allen Decks und Etagen – sollen sich vor Lachen nicht eingekriegt haben. Etliche allerdings könnten ob dieses Vorschlages in Schreckstarre verfallen sein. Nämlich die, die sich zu erinnern wissen, wohin so eine Losung – falls von genügend Bürgern aufgenommen – führen kann. Das Bild direkter Bürgerdemokratie: bleiche Regierungsmitglieder mit dem Rücken am Gemäuer des Kanzleramts (oder des Roten Rathauses), und vor ihnen tausende Menschen, die von ihnen wütend Rechenschaft verlangen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sich der Spaßmacher aus der Kabine der Konservativen wirklich vergegenwärtigte, was er da vorschlug.
Ach, ja, auch der PDS hatten sie ein Ticket für die Kreuzfahrt des Narrenschiffes geschenkt. Sie nahm dankend an. Und hatte sich extra dafür von einem parteinahen Texter und einem auch für sie bezahlbaren Komponisten einen Song produzieren lassen. In Anlehnung an den zwanzig Jahre alten Nicole-Titel Ein bißchen Frieden trat Gregor Gysi mit einem Lied auf (vorveröffentlicht im Neuen Deutschland), in dem er appellierte, endlich »Frieden mit dieser Gesellschaft« zu machen. Obwohl diese Botschaft wahrscheinlich zuvörderst an seine eigenen Leute gerichtet war, erstaunte er mit ihr auch die anderen Passagiere und konnte sogar mehr Beifall bei ihnen als bei den Seinen einfahren. Und da der Sänger, wie es aussieht, momentan keine Freunde zur Verfügung hat, die ihm sagen, wann er oder eine Angelegenheit peinlich zu werden droht (der Preis der Prominenz?), wechselt er jetzt, Zeitungsberichten zufolge, in die Showbranche, Abt. Abgehalfterte Politiker: Die Christiansen-Firma TV21 produziert für den MDR eine Talkshow, deren Protagonisten Gregor Gysi und – Lothar Späth sind. Mehr »Frieden mit dieser Gesellschaft« ist ja kaum noch denkbar. Ich hatte einen Traum: Gysi bei den Bayern, mit Gamsbarthut, wie Gorbatschow …

Der Steuermann lügt, der Kapitän ist betrunken
Und der Maschinist in dumpfe Lethargie versunken,
Die Mannschaft lauter meineidige Halunken,
Der Funker zu feigʼ, um SOS zu funken
Klabautermann führt das Narrenschiff
Volle Fahrt voraus und Kurs aufʼs Riff