Des Blättchens 5. Jahrgang (V), Berlin, 18. März 2002, Heft 6

Kampf um Berlin

von Leokadia Lawin

Nach fünfzig Jahren kehren die deutschen Eliten zurück in ihre Hauptstadt. Dem Freien Berlin droht die Kapitulation. Nichts hat es genützt, daß die Halb-Weltstadt über vierzig Jahre lang der roten Flut trotzte und am Ende sie sogar besiegte. In der Stunde des Triumphes holte sich West-Berlins Talmi-Bürgertum ein Trojanisches Pferd in die Mauern. Die vermeintlichen Freunde aus Bonn, Frankfurt, Hamburg und Stuttgart entpuppten sich als die wahren Gegner. Es tobt ein unerklärter Krieg. Vor unseren Augen vollzieht sich die tiefgreifendste Umgruppierung der deutschen Herrschafts-Eliten seit 1944 – und keiner redet davon. In Deutschland ist Diskretion unterdessen ein hohes Gut.
Nun wollen sich die einstigen Frontstadthelden – ein Juste-milieu auf niedrigstem Niveau – ausgerechnet von einem aus München zugewanderten Ex-Liberalen retten lassen. Christoph Stölzl, ein kreativer Museumsmann, ist dabei, sich an die Spitze jener Partei zu schwingen, die zwanzig Jahre lang dem Duo Landowsky/Diepgen bis in den allertiefsten Schmutz mit inbrünstiger Lust folgte. Man fragt sich: Warum tut der sich das an? Er ist doch nicht nur – quasi im Nebenamt – ein Lieblingsfeind der Linken aus Ost wie West, er hat auch einen anständigen Beruf. Stölzl: die letzte Hoffnung der versinkenden Westberliner Insel-»Kultur«.
Bei Kriegsende hatte sich Berlin in eine Titanic verwandelt, die im blutdurchtränkten märkischen Sand versank. Die ersten, die von Bord gingen, waren die großen Unternehmen – sie verlegten ihre Hauptsitze in den Süden oder Westen. Ihnen folgten die Spitzen samt Chargen aus Politik, Verwaltung, SS, Polizei, Justiz und Militär. Und nach der Blockade verließen alle diejenigen die Stadt, die sich in Westdeutschland etwas für sich ausrechnen konnten. Das waren vor allem die Jungen, die es Jahr für Jahr wegzog – mal mehr, mal weniger, bis 1989.
Zu den wenigen Lichtblicken in der Haupt-Stadt des Kalten Krieges zählten der verbotene Wehrdienst, die gestrichene Sperrstunde, die acht Prozent staatliche »Zitterprämie« pro Einkommen, die Schaubühne und – nicht zuletzt dank jüdischer Remigranten – die anfangs antikommunistisch-linke, später gar nicht mehr so antikommunistisch, aber weiterhin linke Freie Universität. Sie zog vor allem aus den Kleinstädten Westdeutschlands Abiturienten an , darunter nicht wenige Wehrunwillige, die im Schatten der Mauer das aussterbende Industrieproletariat Kreuzbergs beerbten. Mit der Westberliner Gesellschaft hatte das Gebiet mit der Postleitzahl SO 36 wenig zu schaffen; es prosperierte als ein schwäbisches Reservat im unwirtlichen Norden.
Unternehmen nutzten die Stadt nur noch als verlängerte Werkbank; Leiter mittlerer Baubuden sowie Bodenspekulanten bildeten die Crème de la Crème. Manchmal schaute aus Westdeutschland ein aufstrebender Politiker vorbei, um den Regierenden Bürgermeister zu geben – und nicht weiter zu stören. Zum größten Arbeitgeber der Stadt wurde – mit großzügigen Transfers aus Bonn – der Öffentliche Dienst entwickelt. Ihre Abrundung fand diese Melange durch Springers Zeitungsmonopol. Kurz: Westberlin war die Stadt der Verlierer, der in Westdeutschland kaum Lebensfähigen, denen aus politischen Gründen ein Biotop eingerichtet worden war. Irgendjemand mußte schließlich dort wohnen.
Daß mit dem Hauptstadtbeschluß alles anders werden würde, begriffen in Deutschland alle und auf der Stelle – außer der Westberliner »Gesellschaft«. Sie machte weiter wie bisher und benahm sich wie Piefke im Kommunismus – siehe Bankgesellschaft. Schade eigentlich, daß sich SPD und PDS nicht darauf verständigen konnten, die Zeichner der staatlich abgesicherten Baufonds zu veröffentlichen; die Opferquote unter den Sozialdemokraten wäre zu hoch. Trotzdem: Diese Listen würden mehr über die Stadt erzählen als alle Feuilletons zusammengenommen.
Westberlins »Gesellschaft« bildet einen abgeschlossenen Zirkel, der die Rückwanderer nicht nur abstößt, sondern mit dem die Rückwanderer unterdessen auch nichts mehr zu tun haben möchten. Während der Springer-Verlag sich auch weiterhin zum Sprachrohr Westberliner Unterdurchschnittlichkeit macht, haben sich die westdeutschen Eliten gleich zu Anfang der neunziger Jahre mit den G+J-Erzeugnissen Berliner Zeitung und Kurier ihre eigenen Medien für die werdende Hauptstadt geschaffen. Die Berliner Zeitung kann noch so viel Verlust machen; das ist stets gut investiertes Geld.
Deshalb überraschte es auch nicht, als der Kurier im Sommer 2000 begann, Gregor Gysi gegen Eberhard Diepgen aufzubauen. Ob Gysi da mitspielte oder nur benutzt wurde, ist letztlich unwichtig. Wichtig ist nur, daß die G+J-Medien mit dem Dualismus Gysi – Diepgen die Stimmung für einen Austritt der Sozialdemokraten aus der großen Koalition schufen, vor allem in Ostberlin. Das Motto der Rückwanderer lautete: Wir nutzen die Kommunisten, um Berlin zu unserer Stadt zu machen.
Das Spiel ist zumindest in der ersten Runde aufgegangen. Mit einigem Krampf fanden die verbrauchten Sozialdemokraten sogar einen halbwegs vorzeigbaren Regierenden Bürgermeister, dem es gelang, von den mannigfaltigen Verkommenheiten der Westberliner SPD abzulenken. Der andere Aufsteiger in Berlin ist Christoph Stölzl. Nach seinem unfreiwilligen Abgang als Chef des Deutschen Historischen Museums im Jahre 2000 war er von Springer aufgefangen worden – statt von seinen süddeutschen Freunden. Stölzl wurde Feuilletonchef und stellvertretender Chefredakteur der Welt. Seitdem ist er ein Berliner. Nun soll er das letzte Aufgebot gegen die Heimkehrer organisieren.