Des Blättchens 3. Jahrgang (III), Berlin, 2. Oktober 2000, Heft 20

Befreites Land

von André Brie

Vierzig Jahre hatte die DDR Bestand, zehn Jahre nun schon wieder das von der großen Mehrheit ihrer Bürgerinnen und Bürger herbeidemonstrierte und -gewählte und von Kohl und Krause zusammengenagelte Vereinigungsdeutschland. Nicht selten habe ich den Eindruck, die DDR sei nach ihrem Tode lebendiger als zumindest im Jahrzehnt vor ihrem Dahinscheiden. Gelegentlich scheint sie nach ihrem Ende sogar Eigenschaften zu entwickeln, die sie zuvor gar nicht hatte, und welche verloren zu haben, von deren dauerhafter Existenz man vor 1989 fest überzeugt war.
Daß die DDR das bürokratischste Land auf dem Erdball gewesen sei, habe ich bereits nach den ersten Berührungen mit der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union 1990 korrigieren müssen und können.
Es gibt auch Bitteres: Ich kannte neonazistische Aktivitäten in der DDR und hatte mich mit ihnen damals in einem Artikel für die Zeitschrift Film und Fernsehen verschämt am Rande, in einem Kabarett-Text für die Magdeburger Kugelblitze gemeinsam mit Uwe Scheddin sehr direkt auseinandergesetzt. Das Schweigen der DDR-Behörden und -Medien empfand ich als empörend. Daß der Antifaschismus ansonsten aber in der DDR-Bevölkerung tief, allgemein und dauerhaft verankert sein würde, stand für mich fest. Ich hätte mir nicht vorstellen können (oder wollen?), daß in wenigen Monaten nach der Wende ausländerfeindliche Positionen in beträchtlichen Teilen der ostdeutschen Bevölkerung mehr oder minder offene Unterstützung finden könnten. Allerdings hätte mich die Erinnerung an die bereitwillige Verbreitung antipolnischer Witze Anfang der achtziger Jahre – während der Solidarnosc-Proteste – eines Schlechteren belehren müssen.
So war es vielleicht doch nicht überraschend, daß die ersten rechtsextremen Strukturen nach der Vereinigung in Ostdeutschland auch von hohen NVA-Offizieren und einem M/L-Professor der Leipziger Karl-Marx-Universität organisiert wurden. Als 1992 ein Wohnheim von Vietnamesinnen und Vietnamesen in Rostock-Lichtenhagen von Neonazis angegriffen wurde, war das entsetzlich. Den anfeuernden Jubel aus den Fenstern der deutschen Anwohner empfand ich als nicht weniger gräßlich.
Umgekehrt schätzte ich zwar die soziale Sicherheit und Chancengleichheit in der DDR als eine ihrer ehrbarsten und verteidigungswürdigsten Seiten; aber daß die soziale Wärme und Nähe so groß gewesen sein soll, wie ich es zehn Jahre später selbst glaube und heute auch von Menschen höre, die zu ihren Lebzeiten nicht allzu viel Gutes an der DDR gelassen hatten, hätte ich früher nicht vermutet. Die soziale Kälte der bundesrepublikanischen Politik und die Kommerzialisierung fast aller menschlichen Beziehungen sind wie eine Lawine über uns gekommen.
Aber leider reagieren wir kaum mit berechtigtem Zorn und Widerstand auf die Gegenwart, sondern mit wehmütiger Erinnerung an die soziale Geborgenheit der Vergangenheit. Dabei wäre kaum eine Seite der DDR so bedeutsam für die Erneuerung kapitalismuskritischer Kämpfe wie ihr Maß an sozialer Sicherheit, sozialer Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit. Wenn es stimmt, und ich habe keinen Zweifel daran, daß die gegenwärtige politische und gesellschaftliche Entwicklung millionenfache soziale Ausgrenzung und Zersplitterung sowie letztlich gesellschaftliche Zerstörung hervorbringt, dann wäre das Beispiel einer solchen Alternative weniger Gegenstand geschichtlicher Betrachtungen als zukunftsorientierter linker Strategie.
Allerdings unter einer Voraussetzung: Ohne kritischste Auseinandersetzung damit, daß diesem Sozialsystem die dauerhafte ökonomische Grundlage und die individuellen politischen Freiheiten fehlten und daß es überhaupt einherging mit einem Menschenbild, das den einzelnen der Gemeinschaft unterordnete, notfalls und zehntausendfach auch repressiv, wird es keine machtvolle Zurück- und Neugewinnung des Gedankens sozialer Gleichheit geben.
Es gibt auch Banales: Undenkbar war mir vor elf Jahren die Vorstellung, daß die raren Erdbeeren aus Werder, die noch selteneren Pfirsiche aus Ungarn, ja, selbst das Schnitzel in der Schöneweider Stumpfen Ecke einmal nostalgische Gefühle auslösen könnten angesichts der markt-europäischen Erdbeeren, die wie Tomaten, die wie Pfirsiche, die wie Gurken schmecken, oder der vorgefertigten form- und geschmacksgenormten Schnitzel, die die Imbißbuden ebenso wie die Restaurants mit »bürgerlicher Küche« von Metro oder BASF oder anderen industriellen Großküchen beziehen. An der DDR-Architektur bin ich oft verzweifelt. Seit ich die Gewerbegebiete an den Autobahnabfahrten in Berlin, Leipzig oder Erfurt kenne, leiste ich Abbitte.
Mein Rückblick auf zehn Jahre deutschachsodeutscher Vereinigung ist von widersetzlichen Widersprüchen gekennzeichnet, verstellt, geklärt. Den enthüllungsgeilen Journalisten muß ich meine anhaltende Traurigkeit verbergen, meine klägliche, hoffnungsreiche Heimat verloren zu haben – kläglich, aber mein, hoffnungsreich, aber dahin. Mir selbst muß ich diese Traurigkeit verbergen, damit ein ungestilltes Verlustgefühl mir nicht die Lust auf die heutigen Kämpfe trübt. Und meinen Genossinnen und Genossen verberge ich sie fast stets, weil ich meine Partei ohnehin schon so oft gelähmt und zu selten ermutigt finde.
Eine Gesellschaft, die überlegen sein sollte, war in der DDR ebenso wie in der Sowjetunion wie ein Kartenhaus zusammengebrochen und hatte sich mit achtzigprozentiger Mehrheit und euphorischer Begeisterung dem Kapitalismus in die Arme geworfen. Sie war nicht in der Lage, eine überlegene und andere Ökonomie zu gestalten, nicht, die geschichtliche Leistung der Enteignung von Banken, Konzernen, Großgrundbesitz, Naziverbrechern weiterzuführen in die Aneignung durch Volkseigentümerinnen und Volkseigentümer, nicht, eine Lebensweise hervorzubringen, die den natürlichen, kulturellen und sozialen Reichtum der Menschen umfassend freigesetzt hätte, nicht, die elementaren Herausforderungen der bürgerlichen Revolutionen an Freiheit und Demokratie endlich und wirklich einzulösen. Dort, wo sie zivilisatorische Kontinuität hätte verwirklichen müssen, fiel die DDR hinter ihre kapitalistischen Konkurrenten zurück, dort, wo der prinzipielle Bruch hätte stattfinden müssen, war sie ihm allzu ähnlich.
Der Liedermacher Gerhard Gundermann hatte in einem seiner Programme eine Szene, in der er Steuermann eines dürftigen Ruderkahns war. Er saß aufgeregt auf einer Leiter, blickte durch das Fernrohr und herrschte seine mitspielende Frau an, die einzige Ruderin seines Bootes, sie möge sich anstrengen, um das vor ihnen fahrende Schiff einzuholen. Das beschrieb er als die hell leuchtende, luxuriöse, schnelle Imperial. Gundermanns Frau ächzte, schinderte, ließ sich von seiner Forderung, die Imperial, endlich einzuholen, immer mehr antreiben, hielt aber plötzlich inne und fragte: »Sag mal, warum wollen wir denn die Imperial einholen? Wollten wir nicht ganz woanders hin?!«
Die geschichtlichen, die gesellschaftlichen Unzulänglichkeiten, Gebrechen und Verbrechen der DDR bewegen mich anhaltend, nicht weil sie mir wichtiger sind als ihre positiven Seiten, schon gar nicht, weil mir Gesellschaft und Politik der heutigen Bundesrepublik nicht kritikwürdig scheinen. Im Gegenteil! Zehn Jahre nach dem implosiven Ende der DDR und ihrer osteuropäischen Partnergesellschaften ist antikapitalistische und sozialistische Politik offensichtlich dringend geboten und erstaunlicherweise mit beträchtlicher Zustimmung schon wieder möglich. Aber diese Chance und diese Herausforderung sind nur wahrnehmbar, wenn die Fehler der Vergangenheit, auch meine eigenen, mit aller Konsequenz und in der Tiefe ihrer vielfältigen politischen, kulturellen, psychologischen, theoretischen und geschichtlichen Wurzeln überwunden werden. Wie könnte das nicht immer noch schmerzen, doch wie sonst will man verhindern, ein kopf- und handzahmer Gegner der Stoiber, Merz oder Riester zu sein! Was könnte der alten und neuen Mitte Besseres passieren als eine Linke, die ihre Fehler verteidigt und fortsetzt, statt die selbstkritischste, lernbegierigste und veränderungsbereiteste politische Bewegung zu sein?!
Das Ende der DDR tat weh, manchmal noch heute, aber – zu diesem Gedanken mußte ich mich eher zwingen, als daß er sich mir aufdrängte – es war auch eine Befreiung, nicht zuletzt für linke Politik.