Des Blättchens 3. Jahrgang (III), Berlin, 10. Juli 2000, Heft 14

Ein Jubiläum

von Horst Grunert

Am 6. Juli 1950, vor fünfzig Jahren, wurde in Zgorzelec das Abkommen über die Markierung der festgelegten und bestehenden deutsch-polnischen Staatsgrenze, kurz: das Görlitzer Abkommen, unterzeichnet. Für die Anerkennung dieser Oder-Neiße-Grenze trat ich stets ein. In eben jenem Jahr 1950 wurde ich nach einer Versammlung, die das Verständnis für eben jene Grenze fördern sollte, dafür auch verprügelt. Es waren keine Nazis, die dies taten, keine vom Westen angestifteten Revanchisten, sondern Arbeiter einer kleinen Ziegelei, die wie ich aus Schlesien stammten, und für die ich ein Verräter war. Wie auch immer unsereins damals argumentierte: Für eine Einsicht, daß Grenzziehung und Vertreibung schließlich doch die Folge des von Deutschland ausgegangenen mörderischen Krieges waren, ließen sich viele nicht gewinnen.
Zu den Siegern dieses Krieges gehörte auch Polen. Dessen Vertreter der Londoner Exilregierung und jene in Moskau waren sich nur in sehr wenigen Fragen einig. Dazu gehörte die Überzeugung, Polen müsse für die erlittenen Opfer und Leiden und als Sicherheit vor künftigen Aggressionen einen beträchtlichen Gebietszuwachs im Westen erhalten. Beide Seiten verwiesen auf die revanchistischen Umtriebe der Deutschen, die nach dem Ersten Weltkrieg in Polen gelebt und den Nazis die Munition für die Forderung nach einer Grenzrevision geliefert hatten. Beweis genug dafür, daß es unmöglich sei, mit einer starken deutschen Minderheit zusammenzuleben. Deren Aussiedlung geriet folgerichtig zur ultimativen Forderung. Natürlich ging es um nicht mehr und nicht weniger als um eine Art ethnische Säuberung. Nur: Gab es einen Ausweg aus diesem Dilemma?
Die Lage komplizierte sich zudem, weil die Sowjetunion wiederum für ihre Westgrenze die Rückkehr zur Curzon-Linie forderte, die schon vor ihrer eigenen Existenz einmal als gerechte Grenze zwischen beiden Ländern vorgeschlagen worden war. Nach den schrecklichen Opfern der sowjetischen Völker war der Anspruch Moskaus auf diese Grenze schwer bestreitbar. Sollte es also das Schicksal Polens sein, zu einem Rumpfstaat zusammengestutzt zu werden? Durch eine weitere Polnische Teilung, diesmal zwischen der siegreichen UdSSR und dem geschlagenen Deutschland? Diese Vorstellung war undenkbar, undurchsetzbar sowieso. Es gab unter diesen Umständen keine Alternative zur Westverschiebung Polens, so schrecklich dieser Begriff auch klingen mag.
Selbstverständlich spielten, als es in der Antihitlerkoalition zu knistern begann, auch taktische Erwägungen eine immer stärkere Rolle. Der Krieg immerhin war noch nicht zu Ende. Allerlei Interessen lagen im Clinch. Und so wurde auf den Ost-West-Konferenzen seinerzeit viel gepokert; Maximal- und Minimal-Varianten waren im Gespräch. Die Oder als Grenzfluß bot sich an, und dann wurde auch die Neiße ins Spiel gebracht, und man entdeckte, daß es derer gleich mehrere gibt. Schließlich verständigten sich alle auf die Maximalvariante – die Linie entlang der Oder und der Görlitzer Neiße. Eine Völkerwanderung ohnegleichen begann.
Die da von Ost nach West zogen, wurden – je nach Betrachtungsweise – Flüchtlinge, Vertriebene oder Umsiedler genannt, auch Eindringlinge. Der Westen baute sie als Stoßtrupp künftiger Auseinandersetzungen gegen den Osten auf. Der Osten versuchte, sie seßhaft zu machen und zu integrieren. Viele bekamen durch die Bodenreform Land, viele der Jungen begannen zu studieren, und ihr Anteil innerhalb der DDR-Eliten war recht hoch. In den ersten Jahren äußerten führende KPD-Funktionäre und noch mehr solche der SPD die Hoffnung, das letzte Wort in der Grenzfrage sei noch nicht gesprochen.
Doch sie wurden bald von der Besatzungsmacht diszipliniert. Die Regierung der noch denkbar jungen DDR hatte keine Wahl und setzte unter das Görlitzer Abkommen ihre Unterschrift; ein Vertrag, der nach einem Verständnis, auf das man sich einigte, keine Grenze schuf, sondern eine solche bestätigte. Das war allemal eine mutige Tat, denn populär wurde das Regime dadurch nicht. Schließlich, vierzig Jahre später, bekannte sich auch die Bonner Regierung dazu; sie wußte, ohne diesen Schritt war die Zustimmung zur deutschen Einheit nicht zu
haben. Fünfzig Jahre nach der Unterzeichnung jenes Abkommens haben die Deutschen wohl mehrheitlich begriffen, daß sie diese Grenze dem verbrecherischen Nazi-Regime verdanken. Wenn denn Deutschland die Kraft gefunden hätte, sich wenigstens dann der faschistischen Herrschaft zu entledigen, als der Krieg offensichtlich verloren war, wäre es zur Bestätigung der Maximalvariante wohl kaum gekommen. Doch heute muß die Frage erlaubt sein, ob es auch weise war, von dem Grundsatz abzugehen, keine territorialen Veränderungen im Ergebnis von Kriegen zuzulassen. Entsprach die Vorverlegung der Westgrenze wirklich den sowjetischen Interessen?
Denn mittlerweile wissen wir schließlich, daß das wiedergewonnene Land der Sowjetunion nicht viel mehr eingebracht hat als einen fortdauernden Haß, der das Verhältnis zwischen Polen und Rußland nachhaltig belastet. Unbestreitbar dabei ist auch, daß die Westverschiebung Polens dessen industrielles Potential enorm verstärkt hat. Aber kann man sagen, daß die ökonomischen Vorteile die politischen Belastungen ausgeglichen haben? Die schmückenden Beiworte, mit denen die Grenze stets drapiert wurde, waren jedenfalls kein Zeichen für Normalität. Polen hat heute wieder ein großes, nicht nur ökonomisch dominierendes Deutschland zum Nachbarn. Es sieht jetzt seine Interessen darin, alle Barrieren, die es noch von Europa trennt, niederzureißen. Definiert es seine Interessen wohlausgewogen? Gewiß, innerhalb der EU geht es friedlich zu. Niemand wird Truppen in Bewegung setzen. Wohl aber Aufkäufer.