Des Blättchens 3. Jahrgang (III), Berlin, 17. April 2000, Heft 8

Standortschädlinge

von Arndt Hopfmann

Da kann man machen, was man will, die profunde ökonomische Ignoranz im Volk der Dichter und Denker kann einen immer und überall heimsuchen.
Ich saß gerade in einem DB-Zug, der in aller Eile dabei war, die Domänen verschiedener DB-Profitcenter auf seinem Weg von Berlin nach Magdeburg zu durchqueren, als ich von einem Mitreisenden unvermittelt vor die heute alles entscheidende Frage gestellt wurde.»Verstehen Sie das mit dem shareholder value? Die Zeitungen stehen voll davon, nur was es ist, schreiben sie nicht.«
Da war er also wieder, der gemeine Ignorant als Standortschädling. Während in angelsächsischen Gefilden schon jedes Kind weiß, daß es nicht auf den Sinn oder den Nutzen eines Unternehmens, sondern allein auf seinen Börsenwert (die Kursentwicklung seiner Aktien) ankommt, glaubt hierzulande noch eine scheinbar unbelehrbare Mehrheit von Ignoranten, daß eine wertvolle Firma zunächst etwas Nützliches aller Welt zum Kauf anbieten müsse. Dabei verhält es sich mit dem shareholder value doch eher so, daß die Aktienbesitzer (share-holder), für die ein Unternehmen einen bestimmten Wert (value) hat, gar nicht auf dessen Erzeugnisse oder Leistungen angewiesen, und seine Kunden, die dringend ein bestimmtes Produkt brauchen, oft zu kapitalschwach sind, um überhaupt shareholder sein zu können.
Da sich nun der Börsenwert eines Unternehmens vor allem über dessen aktuelle Gewinne und noch vielmehr über die Gewinnerwartungen bestimmt, zählt für die Anteilseigner allein eine Verbesserung der »Ertragssituation«, unabhängig davon, ob der eigentliche Unternehmenszweck noch realisiert werden kann oder nicht. Dem Konsumenten eines Erzeugnisses oder einer Dienstleistung ist die Ertragslage des Produzenten dagegen ziemlich gleichgültig. Für ihn zählt nur der Preis, zu dem er seinen Bedarf – im notwendigen Umfang – befriedigen kann. Hier tut sich in Deutschland eine wahrlich gigantische Kluft zwischen den Interessen von Aktienbesitzern und Verbrauchern auf. Warum? Weil es hier zu wenige Aktionäre, insbesondere Kleinaktionäre, gibt.
Wenn nämlich der Fahrgast in besagtem DB-Regionalexpreß Eigentümer von Aktien der Bahn AG wäre, dann läge es auch in seinem Interesse, daß unrentable Zugverbindungen eingestellt, Fahrpreise erhöht, Bahnhöfe geschlossen und Personal entlassen würden. Statt sich jedoch an der virtuellen Bereicherung durch steigende Aktienkurse zu beteiligen und seine ersparten Hunderter munter an der Börse zu verspekulieren, wodurch offenbar allein das augenblickliche »Börsenfeuerwerk« in Gang gehalten werden kann, beharrt der frustrierte Bahnkunde hartnäckig auf einem altmodischen Leistungsanspruch, der doch mit der Einführung des Automobils als Massentransportmittel und spätestens seit dem Bau von Hochgeschwindigkeitszügen und -strecken der Vergangenheit angehören sollte.
Abgesehen davon, daß sich das Bahnpersonal – in Verkennung der tatsächlichen Lage – größtenteils noch immer so nonchalant benimmt, als wäre es Inhaber einer unkündbaren Lebensstellung, betreibt der Bahnnutzer mit seiner starrköpfigen Weigerung, auf den zuschlagfreien Regionalverkehr zu verzichten, hochgradig volkswirtschaftlich schädliche Obstruktion. Er verweigert sich dem schönen teuren Hochgeschwindigkeitsverkehr und fordert statt dessen mehr Service und mehr Pünktlichkeit auch im kleinen, als ob damit der Börsenwert des Unternehmens gesteigert werden könnte.
In einer Welt, in der das wirtschaftliche Wohlergehen scheinbar immer mehr von den Transaktionen virtueller (Papier-)Werte abhängt, wäre es doch offensichtlich viel vernünftiger, auf die tägliche Malaise mit dem Bahnverkehr zu verzichten, sich ein Auto zuzulegen und mit dem Rest vom Ersparten selbst an die Börse zu gehen – um Bahnaktien zu kaufen. Das hätte den wunderbaren Nebeneffekt, daß infolge der dadurch steigenden Nachfrage der shareholder value des Unternehmens – und zwar trotz Nutzerrückgangs – steigen würde. Es fände eine grandiose Vermögensmehrung statt, ohne daß auch nur ein einziger Zug wirklich rollen müßte.
Einen Haken hat die Geschichte mit dem steigenden shareholder value der Bahn allerdings. Sollte sich nämlich herausstellen, daß durch die »Verschlankung« des Unternehmens und den dadurch erzwungenen Umstieg der Kunden im Regionalverkehr auf das Auto sich das Bahngeschäft überhaupt nicht mehr rentiert, dann ist es Essig mit der Vermögensvermehrung über Bahnaktien. Deren Kurs dürfte dann rascher gegen Null stürzen, als die Anteilseigner ihre schwindsüchtigen Papiere wieder loswerden können.
Dann hätte man besser gleich Aktien der Autoindustrie kaufen sollen. Und dann wäre es wiederum nicht schlecht, wenn es die Bahn als flächendeckendes Dienstleistungsunternehmen wie einst noch geben würde. Aber auch damit dürfte es dann Essig sein. So ist das nunmal mit dem shareholder value …