Das Blättchen, 2. Jahrgang (II), Berlin, 27. Dezember 1999, Heft 26

»Ostfernsehen – Westfernsehen« …?

von Christian Neef

Ostfernsehen – Westfernsehen« hat M. R. Richter seinen Text in Nummer 24 des Blättchens überschrieben. Ich habe ihn sehr aufmerksam gelesen, weil mir das Thema Tschetschenien seit Jahren sehr am Herzen liegt. Nur: Diese Wortmeldung aus Kiew hat mich ziemlich ratlos zurückgelassen. Was eigentlich wollte uns der Autor sagen?
Das Stück kommt als unparteiische Beobachtung daher. M.R. Richter – und das mag ja vielen in diesen Wochen so gehen – zeigt sich von den Bildern vom kaukasischen Kriegsschauplatz verwirrt. Ausführlich zählt der Autor auf, was ihn über CNN, BBC oder Deutsche Welle erreicht und was das russische Fernsehen präsentiert. Im Westen, so hat er bemerkt, würden zum Thema Tschetschenien-Krieg vorzugsweise Flüchtlingstrecks und feuernde russische Haubitzen gezeigt, Moskau dagegen präsentiere seinen Zuschauern Bilder vom Kampf gegen islamische Terroristen und von der Wiederherstellung von Ordnung und Sicherheit in den befreiten tschetschenischen Gebieten. Das Resümee ist so überraschend wie karg: Am Beispiel Tschetscheniens werde dieser Tage deutlich, das ist des Autors ganzer Schluß, daß auf den Informationskanälen der Kalte Krieg wie eh und je tobe – hier Tagesschau, dort Aktuelle Kamera. Ergo: »Es wird nach alter Propaganda Sitte mit zweierlei Maß gemessen.«
Welch weises Urteil! Ist das alles, was man angesichts unzähliger Frauen und Kinder sagen kann, die – von russischen Waffen verstümmelt oder verbrannt – in tschetschenischen Krankenhäusern liegen? Um M. R. Richter zu beruhigen: Ich habe diese Unglücklichen, die es nach Moskauer Lesart gar nicht gibt, eben erst vor Ort selbst gesehen. Wird man ihnen gerecht mit dieser kühlen Skepsis auf der Fernsehcouch? Neutralität beim Kritiker ist beinahe immer verdächtig und ein Mangel: ein Mangel nämlich an Leidenschaft im geistigen Erleben, lesen wir bei Hermann Hesse.
Aber es geht ja hier nicht nur um fehlende Leidenschaft: Jemandem, der in Reichweite des russischen Fernsehens und relativ nah am kaukasischen Konfliktgebiet sitzt – das Wort Krieg vermeidet der Autor bewußt –, hätte ich mehr Fähigkeit zu eigenständiger Analyse zugetraut. Das hätte ihn vor dem Rückgriff auf ein allzu bequemes Klischee bewahrt. Ich will keineswegs leugnen, daß sich rund um Tschetschenien unterschiedlichste politische Begehrlichkeiten bündeln. Die Amerikaner haben den Kaukasus schon vor Jahren zur Zone ihres nationalen Interesses erklärt; daß sie Rußland von Süden her isolieren wollen, ist nicht mehr zu übersehen. Westlichen Medien jedoch von vornherein zu unterstellen, sie ließen sich als Instrumente solcher geopolitischen Finessen mißbrauchen, ist absurd – zumal der Vorwurf in diesem Fall auch »linke« Blätter treffen müßte. Es wäre eine Denkungsart von jener Schlichtheit, wie sie sich inzwischen leider auch wieder in russischen Botschaftsstuben breitgemacht hat.
Von den Amerikanern einmal abgesehen, hat der Westen die Entwicklung am Kaukasus sogar lange Zeit ignoriert. Deutsche Politiker zum Beispiel müssen erst äußerst mühsam dazu bewegt werden, die Dinge auch öffentlich beim Namen zu nennen, ihre doppelte Moral in Sachen Menschenrechte aufzugeben und endlich auf die gängigste Rechtfertigung ihrer Beschwichtigungspolitik zu verzichten, die nichts weiter ist als bloße Augenauswischerei: Wenn man Rußland bedränge, werde alles noch viel schlimmer. Es blieb Daniel Cohn-Bendit vorbehalten, auf die flauen Entschuldigungen seines einstigen Mitkämpfers Joseph Fischer zu antworten: Keine Politik legitimiere die Vernichtung eines Volkes. Selbst die deutsche Öffentlichkeit hat sich zu Beginn dieses zweiten Tschetschenien-Krieges allzusehr in Zurückhaltung geübt, was freilich auch ein Effekt der diesmal fast perfekten russischen Informationsblockade ist.
Nun ist Richters Text ja in Wirklichkeit nicht so unparteiisch, wie er sich gibt. Der Autor schreibt zum Beispiel einen für mich rätselhaften Satz: »In jenem Krieg, der jetzt in den Ätherwellen ausgetragen wird, scheint Rußland derzeit die schlechteren Karten zu haben.« Was heißt dies? Daß Moskau doch ein klein wenig mehr im Unrecht ist als der Westen? Oder daß Rußlands Medien in der neuen Welt-Propagandaschlacht die schwächeren sind, benachteiligt also und somit zu bedauern?
Wer Rußlands Zeitungen und das Fernsehen verfolgt, müßte sich klarer ausdrücken können. Was in der Moskauer Presse derzeit über Tschetschenien zu lesen ist, hat mit freier Berichterstattung nichts mehr zu tun. Es kann auch kaum anders sein: Im Gegensatz zu ihren westlichen Kollegen haben russische Journalisten seit Monaten keinen Fuß mehr auf tschetschenisches Territorium gesetzt (die befreiten nördlichen Gebiete, deren Bevölkerung stets überwiegend moskauhörig war, kann man schließlich nicht rechnen). Das Bild vom Kriegsgeschehen, das Moskauer Berichterstatter ihren Lesern und Zuschauern liefern, ist von Militärs gefiltert und von rassistischem Dünkel verfärbt. Ich habe vor Ort mit Korrespondenten des führenden russischen Fernsehsenders ORT gesprochen – Tschetschenen wohlgemerkt! –, deren Aufnahmen vom Kriegsgeschehen zwar regelmäßig in die Moskauer Zentrale überspielt, aber nie ausgestrahlt werden. Ihr wollt uns wohl unsere Tschetschenien-Politik kaputtmachen, wurden sie von ihren Vorgesetzten ausgelacht. Ein gemeinschaftlicher Protest mehrerer für russische Sender arbeitenden Tschetschenien-Korrespondenten verpuffte im Internet.
Was dagegen soll man von Moskauer Journalisten halten, die für ihre Tschetschenien-Berichterstattung von der russischen Armeeführung mit Orden und Medaillen geehrt werden und die diese Auszeichnungen kommentarlos annehmen? Was von Zeitungsmachern, deren Schlagzeilen den Kampf bis zum letzten Tschetschenen verkünden? Oder was vom Chefredakteur eines früher liberalen Blattes, das sich eigenartigerweise noch immer Unabhängige Zeitung nennt, der ohne Distanz an den immer dubioser werdenden Kremlintrigen teilnimmt und munter die verschiedensten Fälschungen in sein Blatt einrücken läßt – zum Beispiel jene, die Putin-Rivalen Luschkow und Primakow hätten bei Clinton den Sturz des russischen Premiers verlangt?
Die Sorgen um die Flüchtlinge in Inguschetien rangieren in der Zeitung dieses Mannes unter dem Rubrum Spektakel einer humanitären Katastrophe. Ich rede gar nicht vom Fernsehen, in dem jetzt gelogen wird, was die Bildschirme hergeben, und wo Leute zu politischen Meinungsführern aufgestiegen sind, deren journalistisches Credo fast schon faschistoide Züge trägt. Es spricht doch Bände, daß selbst der Moskauer Journalistenverband inzwischen einem wegen seiner Arbeitsmethoden besonders berüchtigten ORT-Moderator das Recht abgesprochen hat, die Berufsbezeichnung »Journalist« zu führen. Von Pressefreiheit kann in Moskau 8 Jahre nach der Wende kaum noch die Rede sein.
Wem also hilft eine so weltenferne Draufsicht wie die von M. R. Richter? Mich bewegen derzeit ganz andere Fragen als die, ob es Unterschiede zwischen östlicher und westlicher Tschetschenien-Berichterstattung gibt. Wie zum Beispiel hat man sich ein Phänomen dieses zweiten Krieges erklären: nämlich die eigenartige Haltung der russischen Intelligenz, ihr dumpfes Schweigen, wie es der Schriftsteller Anatolij Pristawkin nennt – dieses erschütternde Wegsehen einer früher so kritischen Elite, das die hemmungslose Kriegsberichterstattung der Moskauer Medien letztlich erst möglich macht.
Daß auch die westlichen Demokratien bei ihrer Sicht auf Tschetschenien mit gezinkten Karten spielen, versucht der Autor mit einer einzigen Behauptung zu belegen: Die durch Terroranschläge in den vergangenen Wochen in Rußland getöteten Menschen, so sagt er, seien westlichen Zeitungen und Sendern kaum noch der Erwähnung wert. Diese Opfer sind nicht vergessen, durchaus nicht. Schon deswegen nicht, weil Rußlands Regierung entgegen dunkler Andeutungen bis heute keinerlei Beweise vorzulegen vermochte, daß die Urheber der Anschläge tatsächlich Tschetschenen sind. Gäbe es ausreichend Zeugnisse dafür, hätte Putin sie längst der Weltpresse präsentiert – und das nun wirklich in einer sicher beispiellosen Propagandaaktion.